Als Sysadmins die Erde beherrschten
Vorwort:
Diese Geschichte gehört zu Cory Doctorows Sammlung von Kurzgeschichten „Overclocked: Geschichten der gegenwärtigen Zukunft“, verlegt von Blackstone Books. Sie unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.5 veröffentlicht, über die Ihr mehr am Ende dieser Datei findet.
Diese Geschichte und die anderen Geschichten der Sammlung findet Ihr auf:
http://craphound.com/overclocked
Mit den Worten von Woody Guthrie:
„Dieser Song ist in den USA urheberrechtlich geschützt, unter dem Siegel des Copyright #154085, für einen Zeitraum von 28 Jahren, und jeder, der dabei erwischt wird, ihn ohne unsere Genehmigung zu singen, wird unser bester Kumpel sein, weil uns das nicht die Bohne juckt. Druckt ihn. Schreibt ihn nieder. Singt ihn. Swingt dazu. Jodelt ihn. Wir haben ihn geschrieben, mehr wollten wir nicht.”
Overclocked ist Pat York gewidmet, der meine Geschichten bessergemacht hat.
—
Als Sysadmins die Welt beherrschten
(Zuerst veröffentlicht in Baen’s Universe, 2006)
Als Felix’ Einsatztelefon um zwei Uhr morgens klingelte, rollte sich Kelly zu ihm herum, schlug ihm gegen die Schulter und zischte: „Warum hast du das Mistding nicht vorm Schlafengehen ausgemacht?“
„Weil ich Bereitschaft habe,” antwortete er.
“Du bist kein beschissener Arzt,“ erwiderte sie und trat ihn, während er auf der Bettkante saß und die Hose anzog, die er vor dem Zubettgehen auf den Boden fallen lassen hatte. „Du bist ein gottverdammter Systemadministrator.“
„Das ist mein Job,“ sagte er.
„Die treiben Dich, als wärst du der letzte Arsch,“ meinte sie. „Du weißt, dass ich Recht habe. Um Himmels Willen, du hast jetzt ein Kind, du kannst nicht jedes Mal mitten in der Nacht angerannt kommen, weil jemandem der Nachschub an Pornos ausgeht. Geh einfach nicht ran.“
Er wusste, dass sie Recht hatte. Er nahm ab.
“Zentralrouter antworten nicht. Routerprotokoll GBP antwortet nicht.” Der mechanischen Stimme der Systemüberwachung war es egal, ob er sie beschimpfte, also tat er es einfach und fühlte sich etwas besser.
„Vielleicht kann ich es von hier aus reparieren,“ sagte er. Er konnte sich in die Notstromversorgung für den Käfig einloggen und die Router neustarten. Die Notstromversorgung lag in einem anderen Netzblock, mit eigenen, unabhängigen Routern und einer eigenen, unterbrechungsfreien Stromversorgung.
Kelly saß jetzt aufrecht im Bett, ein schwacher Schatten vor dem Kopfteil. „In den fünf Jahren, die wir verheiratet sind, hast du nicht einmal etwas von hier aus reparieren können.“ Dieses Mal hatte sie Unrecht – er hatte ständig Sachen von zuhause aus in Ordnung gebracht, aber das machte er diskret und ohne Aufsehen, darum erinnerte sie sich nicht daran. Aber sie hatte auch Recht – er hatte Logs, die bewiesen, dass nach ein Uhr morgens nichts repariert werden konnte, ohne dass er unweigerlich zum Käfig herausfahren musste. Das Gesetz der Unendlichen Perversität des Universums – auch bekannt als Felix‘ Gesetz.
Fünf Minuten später saß Felix hinterm Steuer. Er hatte es nicht von zuhause aus reparieren können. Der Netzblock des unabhängigen Routers war ebenfalls offline. Als das das letzte Mal passiert war, hatte irgendein saublöder Bauarbeiter mit einem Minibagger eine saubere Schneise durch den Hauptleitungsschacht in das Rechenzentrum gezogen und Felix hatte sich dem Haufen von fünfzig wütenden Sysadmins angeschlossen, die eine Woche lang den Rand der Baugrube säumten und die armen Schweine anschrien, die rund um die Uhr daran ackerten, zehntausend Kabel wieder zusammenzuspleißen.
Sein Telefon klingelte noch zweimal im Auto, also schaltete er es auf die Stereoanlage auf und hörte sich über die großen, bassbetonten Lautsprecher die Statusberichte über noch mehr kritische Infrastruktur an, die ausgefallen war. Dann rief Kelly an.
„Hallo,” sagte er.
“Jetzt zuck nicht zusammen. Ich kann an deiner Stimme hören, wie du zuckst.“
Er lächelte unwillkürlich. “Check, Zucken deaktiviert.“
„Ich liebe dich, Felix,” sagte sie.
„Ich bin absolut verrückt nach dir, Kelly. Geh wieder ins Bett.”
“2.0 ist wach,” sagte sie. Als das Baby noch in ihrem Bauch war, war es Beta Test, und als ihre Fruchtblase geplatzt war, hatte er den Anruf bekommen, war aus dem Büro gerannt und hatte dabei gebrüllt: „Der Goldmaster ist gerade angekommen!“ Noch vor seinem ersten Schrei hatten sie ihn 2.0 genannt. „Dieser kleine Bastard hat das Saugen einfach voll drauf.”
“Tur mir leid, dass ich dich geweckt habe,“ sagte er. Er war fast am Rechenzentrum. Kein Verkehr um zwei Uhr morgens. Er fuhr langsamer und zog vor dem Eingang zur Tiefgarage rechts ran. Er wollte Kellys Anruf nicht abbrechen lassen.
“Es geht nicht ums Wecken,“ sagte sie. „Du arbeitest da seit sieben Jahren. Du hast drei Leute unter dir. Gib denen das Telefon. Du hast deine Schuldigkeit getan.“
„Ich mag es nicht, Untergebenen etwas aufzuladen, was ich nicht selber tun würde,“ meinte er.
“Du hast es aber schon getan,“ erwiderte sie. „Bitte? Ich hasse es, mitten in der Nacht allein aufzuwachen. Nachts fehlst du mir am meisten.“
„Kelly-„
„Ich darüber schon lange darüber hinweg, sauer zu sein. Du fehlst mir einfach nur. Mit dir neben mir träume ich besser.“
„OK,“ sagte er.
„Ganz einfach so?“
„Ja, ganz einfach so. Du sollst nicht schlecht träumen und ich habe meine Schuldigkeit getan. Ab jetzt bin ich nachts nur noch in Rufbereitschaft, wenn Urlaub abzudecken ist.“
Sie lachte. „Sysadmins nehmen keinen Urlaub.“
“Dieser hier schon,“ sagte er. „Versprochen.”
„Du bist wunderbar,” antwortete Sie. „Igitt. 2.0 hat gerade meinen Bademantel vollgemacht.“
„Das ist mein Junge,” flachste er.
„Ganz eindeutig,” hörte er noch. Sie legte auf und er fuhr auf den Parkplatz vorm Rechenzentrum, schob seinen Ausweis ein und pellte sein Augenlid nach oben, damit der Netzhautscanner einen guten Blick auf sein schlaftrunkenes Auge werfen konnte.
Er hielt am Automaten an, um sich einen Powerriegel mit Guarana und Medafonil sowie eine Tasse tödlichen Roboterkaffees in einem kleckersicheren, reimraumtauglichen Trinkbecher zu ziehen. Er schlang den Riegel herunter und nippte am Kaffee, dann ließ er die Innentür seine Handgeometrie lesen und ihn für einen Moment taxieren. Schließlich öffnete sie sich mit einem Seufzen und die mit Überdruck versehene Luft der Schleuse ergoss sich über ihn, während er ins innerste Heiligtum eintrat.
Es war ein Irrenhaus. Die Käfige waren so gebaut, dass dazwischen zwei oder drei Sysadmins gleichzeitig manövrieren konnten. Jeder weitere Zentimeter des Abteils war mit summenden Serverregalen, Routern und Laufwerken vollgestopft. Zwischen ihnen eingezwängt waren nicht weniger als zwanzig andere Sysadmins. Ein typischer Haufen von Trägern schwarzer T-Shirts mit kryptischen Sprüchen und Bäuchen, die weit über ihre mit Telefonen und Multitools gefüllten Gürteln hingen.
Normalerweise war es praktisch eiskalt im Käfig, aber die vielen Körper überhitzten den kleinen geschlossenen Raum heillos. Fünf oder sechs schauten auf und zogen eine Grimasse, als er hereinkam. Zwei grüßten ihn mit Namen. Er fädelte seinen Bauch durch die Menge und die Käfige hindurch auf die Ardent-Racks zu, die hinten im Raum standen.
„Felix.” das war Van, der diese Nacht keine Rufbereitschaft hatte.
„Was machst du denn hier?“, fragte er. „Wir müssen morgen nicht beide im Eimer sein.“
„Was? Ach so. Meine persönliche Kiste steht da hinten. Ist um knapp halb zwei ausgegangen und mein Prozessmonitor hat mich geweckt. Ich hätte dich anrufen und sagen sollen, dass ich herkomme – hätte dir die Fahrt erspart.“
Felix‘ eigener Server – eine Kiste, die er sich mit fünf weiteren Freunden teilte – war in einem Rack ein Stockwerk tiefer. Er fragt sich, ob der auch offline war.
“Was ist eigentlich los?”
“Massive Flashwurm-Attacke. Irgendein Pisser mit einem Zero-Day-Exploit hat dafür gesorgt, dass sämtliche Windowsrechner im Netz Monte-Carlo-Angriffe auf jeden IP-Block fahren, auch IPv6. Auf den großen Ciscos laufen überall Admin-Schnittstellen über IPv6, und sie gehen reihenweise ein, sobald zehn Angriffe gleichzeitig ankommen, was heißt, dass praktisch sämtlicher Verkehr ausgefallen ist. Auch das DNS ist völlig im Eimer – als hätte irgendjemand letzte Nacht die Zonenweiterleitung vergiftet. Ach ja, dann ist da noch eine Komponente für E-Mail und interne Nachrichten, die ziemlich lebensechte Nachrichten an jeden aus deinem Adressbuch verschickt, dabei Eliza-Dialoge ausspuckt, die aus deinen gespeicherten Mails und IMs abgekupfert sind, und dich dazu bringen will, einen Trojaner zu öffnen.“
„Jesus.”
“Genau das.” Van war ein Typ-Zwei Sysadmin, über einsachtzig groß, langer Pferdeschwanz, hüpfender Adamsapfel. Über seinen Rippen, auf denen man Klavier spielen konnte, trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift WÄHLE DEINE WAFFE und darunter etlichen typischen Rollenspielwürfeln mit vielen Flächen.
Felix war ein Typ-Eins Admin, mit siebzig oder achtzig überflüssigen Pfunden um die Mitte und einem akkurat geschnittenen Vollbart, der seine Doppelkinne versteckte. Sein T-Shirt verkündete HELLO CTHULHU, garniert mit einem süßen, mundlosen Cthulhu im Hello-Kitty-Stil. Sie kannten einander seit fünfzehn Jahren, nachdem sie sich im Usenet, bei den Toronto Freenet Beer-Sessions und dann bei der einen oder anderen Star Trek Convention getroffen hatten, worauf Felix Van schließlich angeheuert hatte, mit ihm zusammen bei Ardent zu arbeiten. Van war zuverlässig und methodisch. Eigentlich ein Elektroingenieur, führte er eine ehrwürdige Reihe von Spiralblöcken, in denen penibel jeder einzelne jemals von ihm abgearbeitete Schritt mit Zeit und Datum vermerkt war.
„Nicht mal PEBKAC, diesmal,” sagte Van. Problem Exists Between Keyboard and Chair. E-Mail-Trojaner fielen in diese Kategorie – wären die Leute schlau genug, verdächtige Anhänge einfach nicht aufzumachen, dann wären E-Mail-Trojaner ein längst vergangenes Problem. Aber Würmer, die Cisco-Router fraßen, waren kein DAU-Problem, sie waren die Schuld unfähiger Ingenieure.
„Nein, Microsoft ist schuld,” sagte Felix. „Jedesmal, wenn ich um 2 Uhr morgens arbeiten muss, ist es entweder PEBKAC oder Microschlunz.“
#
Am Ende beschlossen sie, die verdammten Router einfach vom Internet abzustöpseln. Natürlich nicht Felix, obwohl es auch ihn juckte, das zu tun und nach dem Neustart ihre IPv6-Schnittstellen abzuschalten. Ein paar hartgesottene Bastard Operators from Hell machten es, die zwei Schlüssel gleichzeitig drehen mussten, um in ihren Käfig zu kommen – wie die Wachmannschaft eines Raketensilos. 95 Prozent des Fernverkehrs von Kanada gingen durch dieses Gebäude. Die Sicherheit war besser als bei den meisten Raketensilos.
Felix und Van brachten ihre Ardent-Kisten eine nach der anderen wieder online. Pings von den Würmern prasselten auf sie ein – die Router wieder ans Netz zu bringen, gab die Downstream-Käfige ungeschützt dem Dauerfeuer preis. Jede Kiste im Internet ertrank in Würmern, erzeugte selbst Wurmattacken, oder beides. Nach etwa einhunderttausend Timeouts schaffte Felix es, zum NIST und zu Bugtraq durchzukommen und einige Kernel-Patches herunterzuladen, die die Wurmlast auf den von ihm betreuten Rechnern verringern sollten. Es war zehn Uhr morgens und er war hungrig genug, um den Arsch eines toten Bären aufzuessen, aber er kompilierte seine Kernel neu und brachte die Rechner wieder online. Vans lange Finger flogen über die Admin-Tastatur und seine Zunge war ein Stück herausgestreckt, während er Laststatistiken für jeden einzelnen Rechner laufen ließ.
„Mein Greedo hat zweihundert Tage lang gelaufen,“ sagte Van. Greedo war der älteste Server im Rack, noch aus den Tagen, als die Kisten nach Star Wars-Figuren benannt wurden. Jetzt waren sie alle nach Schlümpfen benannt, aber die Schlümpfe gingen so langsam ebenfalls aus, weshalb sie dazu übergegangen waren, sie nach Figuren von Mc Donald’s zu benennen – Vans Laptop war der erste, Mayor McCheese.
„Greedo wird wieder auferstehen,“ sagte Felix. „Ich habe einen 486er einen Stock tiefer, der schon über fünf Jahre läuft. Es tut mir in der Seele weh, ihn neu zu booten.“
„Wofür in drei Teufels Namen benutzt du einen 486er?“
„Für nichts. Aber wer fährt einen Rechner runter, der fünf Jahre ununterbrochen an war? Das ist, als würde man seine Oma mit einem Kissen ersticken.“
„Ich muss was essen,“ sagte Van.
„Ich sag dir was,“ meinte Felix. „Wir fahren deine Kiste rauf, dann meine, dann fahre ich mit dir zum Lakeview Lunch, wir essen Pizza zum Frühstuck und dann kannst du den Rest des Tages freinehmen.“
“Deal,” sagte Van. “Mann, du bist viel zu gut zu uns Fußvolk. Du solltest uns in einer Grube halten und uns verprügeln wie die anderen Bosse. Mehr verdienen wir nicht.“
#
„Dein Telefon,“ sagte Van. Felix wand sich aus den Eingeweiden des 486 heraus, der sich geweigert hatte, sich überhaupt wieder einzuschalten. Er hatte ein paar Typen, die Spammails verschickten, ein Netzteil abgeschwatzt, und versuchte jetzt, es einzubauen. Er ließ sich von Van das Telefon geben, das aus seinem Gürtel gefallen war, während er sich verbogen hatte, um an die Hinterseite des Rechners zu kommen.
„Hallo Kel,” sagte er. Im Hintergrund war ein seltsames, gluckerndes Geräusch zu hören. Vielleicht Rauschen? 2.0, der im Bad herumplanschte? „Kelly?“
Die Leitung brach ab. Er versuchte zurückzurufen, kriegte aber überhaupt nichts – kein Klingeln oder die Sprachbox. Schließlich ging sein Telefon in den Time-Out und verkündete NETWORK ERROR.
„Kacke,” sagte er verhalten. Er klickte das Telefon an seinen Gürtel. Kelly wollte sicher wissen, wann er nach Hause kam, oder wollte, dass er irgendetwas für die Familie mitbrachte. Sie würde ihm auf die Sprachbox quatschen.
Er war dabei, das Netzteil zu testen, als sein Telefon wieder klingelte. Er riss es an sein Ohr und ging ran. “Kelly, hey, was gibt’s?” Er bemühte sich, jede Gereiztheit aus seiner Stimme zu verbannen. Es fühlte sich schuldig; technisch gesehen hatte er seine Pflicht gegenüber Ardent Financial LLC erfüllt, sobald die Ardent-Server wieder online waren. Die letzten drei Stunden waren komplett sein privater Spaß gewesen – auch wenn er vorhatte, sie dem Unternehmen in Rechnung zu stellen.
Jemand am anderen Ende schluchzte.
„Kelly?“ Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und seine Zehen taub wurden.
„Felix,“ sagte sie, durch das Schluchzen fast unverständlich. „Er ist tot, oh Gott, er ist tot.“
„Wer? Wer, Kelly?“
„Will,“ sagte sie.
„Will? dachte er. Wer zum Teufel ist – seine Knie versagten. William war der Name, den sie auf die Geburtsurkunde schreiben lassen hatten, obwohl sie ihn immer nur 2.0 genannt hatten. Felix gab ein gequältes Stöhnen von sich, wie ein krankes Bellen.
„Ich bin krank,“ sagte sie. „Ich kann nicht einmal mehr stehen. Oh, Felix, ich liebe dich so sehr.“
„Kelly? Was ist da los?“
„Alle, alle –“ sagte sie. „Es gibt nur noch zwei Sender im Fernsehen. Gott, Felix, draußen sieht es aus wie im Zombiefilm –“ er hörte, wie sie würgte. Der Anruf begann sich aufzulösen, und ihre Würgegeräusche wurden als leiser werdende Echos hin und her geworfen.
„Bleib da, Kelly”, rief er, als die Leitung abbrach. Hastig tippte er 911 ein, aber das Telefon zeigte nur wieder NETWORK ERROR an, sobald er auf SENDEN drückte.
Er schnappte sich Mayor McCheese von Van, stöpselte ihn an das Netzwerkkabel des 486ers und öffnete von der Befehlszeile aus Firefox, dann googelte er die Seite der Metro Police. Rasch aber nicht hektisch suchte er nach einem Online-Kontaktformular. Felix verlor nie den Kopf, niemals. Er löste Probleme, und ausflippen löste keine Probleme.
Er fand ein Online-Formular und schrieb die Einzelheiten seines Gesprächs mit Kelly herein, als würde er einen Fehlerbericht ausfüllen, mit geübten Tastendrücken, die Beschreibung vollständig, und klickte dann auf ABSCHICKEN.
Van hatte über seine Schulter mitgelesen. „Felix -“, begann er.
„Gott“, sagte Felix. Er saß auf dem Boden des Käfigs und zwang sich langsam, wieder aufzustehen. Van nahm den Laptop und versuchte einige Nachrichtenseiten, bekam aber nur Time-Outs. Unmöglich zu sagen, ob es daran lag, dass etwas Schreckliches passierte oder weil das Netzwerk einfach unter dem Superwurm lahmte.
„Ich muss nach Hause“, sagte Felix.
„Ich fahre dich“, antwortete Van. „Du kannst weiter deine Frau anrufen.
Sie machten sich in Richtung der Fahrstühle auf. Dort lag eines der wenigen Fenster des Gebäudes, ein dickes, abgeschirmtes Bullauge. Sie lugten hindurch, während sie auf den Aufzug warteten. Nicht viel Verkehr für einen Mittwoch. Waren mehr Polizeiwagen unterwegs als sonst?
„Oh mein Gott-“, deutete Van.
Der CN Tower, ein Gebäude wie eine riesige elfenbeinerne Nadel, erhob sich östlich von ihnen. Er stand schief, wie ein Zweig, den man in nassen Sand gesteckt hatte. Bewegte er sich? Er bewegte sich. Er kippte zur Seite, langsam, aber dann schneller werdend, und fiel nach Nordosten Richtung Finanzbezirk. Dann lehnte er innerhalb einer Sekunde so weit über, dass er vollends abbrach. Sie spürten die Schockwelle, dann hörten sie sie, und das ganze Gebäude wankte unter dem Anprall. Eine Staubwolke erhob sich aus den Trümmern, und es donnerte wieder und wieder, während die größte freistehende Struktur der Welt durch Gebäude auf Gebäude schmetterte.
„Das Fernsehzentrum stürzt ein”, sagte Van. Es stimmte – das hoch aufragende Gebäude der CBC fiel in Zeitlupe in sich zusammen. Menschen rannten in alle Richtungen, wurden von herabstürzendem Mauerwerk zerquetscht. Durch das Bullauge betrachtet war es, als würde man einen gut gemachten Spezialeffekt sehen, den man von einer Filesharing-Seite heruntergeladen hatte.
Sysadmins hingen jetzt in einer Traube um sie herum und drängelten danach, die Zerstörung selbst zu sehen.
„Was ist passiert?”, fragte einer von ihnen.
„Der CN Tower ist umgefallen“, antwortete Felix. Seine Stimme schien für seine eigenen Ohren von weit weg zu kommen.
„War es das Virus?“
„Der Wurm? Was?“ Felix’ Augen hefteten sich auf den Typen, einen jungen Admin mit nur wenig Typ-Zwei-Schwabbel um die Mitte.
„Nicht der Wurm“, sagte der Mann. „Ich habe eine E-Mail bekommen, dass die ganze Stadt wegen eines Virus unter Quarantäne steht. Biowaffe, heißt es.“ Er reichte Felix seinen Blackberry.
Felix war so in den Bericht vertieft – der angeblich von Health Canada verbreitet wurde –, dass er nicht einmal bemerkte, dass sämtliche Lichter ausgegangen waren. Dann fiel es ihm auf und er drückte den Blackberry wieder seinem Besitzer in die Hand und ihm entfuhr ein kleiner Schluchzer.
#
Eine Minute später waren die Generatoren angelaufen. Sysdamins rannten auf die Treppen zu. Felix schnappte Van beim Arm, zog ihn zurück.
„Vielleicht sollten wir das im Käfig aussitzen“, meinte er.
„Was ist mit Kelly?”, fragte Van.
Felix fühlte sich, als müsste er sich übergeben. „Wir sollten in den Käfig gehen, sofort.“ Der Käfig verfügte über Mikropartikelfilter.
Sie rannten die Treppe hinauf zum großen Käfig. Felix öffnete die Tür, die sich mit einem Zischen wieder hinter ihnen schloss.
„Felix, du musst nach Hause -“
„Es ist eine Biowaffe“, entgegnete Felix. „Supervirus. Ich glaube, hier drin sind wir sicher, solange die Filter halten.“
„Was?“
„Geh auf IRC“, bedeutete Felix ihm.
Sie klinkten sich ein. Van mit Mayor McCheese und Felix mit Schlumpfine. Sie hüpften von Chatkanal zu Chatkanal, bis sie auf einen mit bekannten Nicknames stießen.
> Das Pentagon ist weg/Weißes Haus genauso
> MEIN NACHBAR KOTZT BLUT VON SEINEM BALKON IN SAN DIEGO
> Jemand hat die Gherkin in London umgehauen. Banker flüchten aus der Stadt wie die Ratten.
> Ich habe gehört, dass die Ghinza brennt.
Felix tippte: Ich bin in Toronto. Wir haben gerade gesehen, wie der CN Tower umgestürzt ist. Ich habe Berichte über Biowaffen gehört, etwas sehr schnell Wirkendes.
Van las das und sagte: „Du weißt nicht, wie schnell es wirkt, Felix. Vielleicht wurden wir alle schon vor drei Tagen infiziert.“
Felix schloss die Augen. „Wenn das stimmen würde, würden wir irgendwelche Symptome spüren, denke ich.“
> Sieht aus, als hätte ein EMP Hong Kong und vielleicht Paris erwischt – auf Echtzeitbildern von Satelliten sind beide komplett dunkel, genauso wie sämtliche Netzblöcke dort tot sind
> Ihr seid in Toronto?
Ein unbekannter Nickname
> Ja, in der Front Street
> Meine Schwester ist an der UofT und ich kann sie nicht erreichen, könnt ihr sie anrufen?
> Telefone sind tot
Felix tippte und starrte auf die Meldung NETWORK PROBLEMS.
„Ich habe ein Soft-Phone auf Mayor McCheese“, sagte Van und rief seine Voice-over-IP-App auf. „Ist mir gerade erst wieder eingefallen.“
Felix nahm ihm den Laptop ab und hämmerte seine eigene Nummer ein. Es klingelte einmal, dann hörte er einen schrägen, meckernden Ton wie ein Krankenwagen in einem italienischen Film.
> Kein Netz
Felix tippte nochmal.
Er schaute zu Van auf und sah, dass dessen dürre Schultern bebten. Van sagte: “Heilige vermaledeite Scheiße. Das Ende der Welt.”
#
Felix riss sich eine Stunde später vom IRC los. Atlanta hatte gebrannt. Manhattan war heiß – radioaktiv genug, um die auf die Lincoln Plaza gerichteten Webcams zu grillen. Alle gaben dem Islam die Schuld, bis klar wurde, dass Mekka ein rauchender Krater war und man die saudische Königsfamilie vor ihren Palästen aufgeknüpft hatte.
Seine Hände zitterten, und Van weinte in der gegenüberliegenden Ecke des Käfigs leise vor sich hin. Er versuchte nochmal, zuhause anzurufen, dann die Polizei. Es funktionierte genauso gut wie die letzten 20 Male.
Er legte sich per SSH auf die Kiste ein Stockwerk tiefer und holte seine Mails ab. Spam, Spam, Spam. Mehr Spam. Automatisierte Nachrichten. Da – eine dringende Mitteilung vom Eindringlingsmeldesystem des Ardent-Käfigs.
Er öffnete und überflog sie. Jemand klopfte unbeholfen aber immer wieder seine Router auf Löcher ab. Die Signatur war eine völlig andere als die des Wurms. Er machte eine Traceroute und entdeckte, dass der Angriff vom gleichen Gebäude ausging, in dem er selbst war, von einem System in einem Käfig einen Stock tiefer.
Dafür hatte er seine Prozeduren. Er ließ einen Portscan gegen den Angreifer laufen und stellte fest, dass Port 1337 offen war – 1337 war „LEET“ oder „Elite“ im Hackercode, bei dem Buchstaben durch Zahlen ersetzt werden. Das war genau die Art Port, die ein Wurm offenhalten würde, um darüber herein und wieder heraus zu schlüpfen. Er googelte bekannte Exploits, die einen Listener auf Port 1337 hinterließen, engte dies anhand der Signatur des Betriebssystems auf dem kompromittierten Server ein, und hatte es schließlich.
Der Wurm war uralt, einer, gegen den jede Kiste vor Jahren gepatcht worden sein sollte. Was sollte es. Er hatte den Client dafür und nutzte ihn, um auf der Kiste einen Root-Account für sich einzurichten, in den er sich einloggte und dann umsah.
Ein einzelner anderer User war eingeloggt, „scaredy“, und er prüfte den Prozessmonitor und stellte fest, dass scaredy all die hunderte Prozesse angeworfen hatte, die ihn und jede Menge anderer Kisten unablässig bombardierten.
Er öffnete einen Chat:
> Hör auf, meinen Server anzugraben
Er erwartete Toben, Schuld, Leugnen. Es wurde überrascht.
> Bist Du im RZ Front Street?
> Ja
> Jesus, ich dachte, ich wäre der letzte Überlebende. Ich bin im vierten Stock. Ich glaube, draußen findet ein Biowaffenangriff statt. Ich will den Reinraum nicht verlassen.
Felix atmete verblüfft aus.
> Du hast meinen Server angegriffen, damit ich dich per Traceroute suche?
> Ja
> Echt raffiniert.
Cleverer Bastard.
> Ich bin im sechsten Stock, es ist noch einer bei mir.
> Was weißt du?
Felix kopierte ihm den IRC-Log und wartete, während der Andere ihn verdaute. Van stand auf und lief hin und her. Seine Augen waren glasig.
„Van? Kumpel?“
„Ich muss pinkeln”, sagte der.
„Die Tür bleibt zu“, bestand Felix. „Ich habe da eine leere Mountain Dew-Flasche im Müll gesehen.“
„OK“, sagte Van. Er ging wie ein Zombie zum Mülleimer rüber und zog die leere Magnum heraus. Er drehte Felix den Rücken zu.
> Ich bin Felix
> Will
Felix’ Magen knotete sich in Zeitlupe zusammen, als er an 2.0 dachte.
„Felix, ich glaube, ich muss nach draußen“, sagte Van. Er machte sich auf zur Tür der Luftschleuse. Felix ließ seine Tastatur fallen, sprang auf und rannte mit ausgestreckten Armen auf Van zu. Noch bevor er die Tür erreichte, hatte er ihn zu Boden gerissen.
„Van“, sagte er und sah in die glasigen, ins Leere starrenden Augen seines Freundes. „Sieh mich an, Van.“
„Ich muss gehen”, drängte Van. „Ich muss nach Hause und die Katzen füttern.“
„Es ist was da draußen, etwas schnell Wirkendes und Tödliches. Vielleicht wird es vom Wind weggeweht. Vielleicht ist es schon weg. Aber wir werden hier sitzen bleiben, bis wir es ganz sicher wissen oder bis wir keine andere Wahl mehr haben. Setz dich, Van. Hinsetzen.“
„Mir ist kalt, Felix.“
Es war eiskalt. Felix‘ hatte Gänsehaut auf den Armen und seine Füße fühlten sich an wie Eisblöcke.
„Setz dich vor die Server, wo die Lüfter sind. Nutz die Abwärme.” Er suchte sich selbst ein Rack und schmiegte sich davor.
> Seid ihr da?
> Noch hier – denken über Vorgehensweise nach
> Wie lange bis wir rauskönnen?
> Keine Ahnung
Danach schrieb eine ganze Weile keiner von ihnen.
#
Felix musste die Mountain Dew-Flasche zweimal benutzen. Dann benutzte Van sie nochmal. Felix versuchte wieder, Kelly anzurufen. Die Seite der Metro Police war offline.
Schließlich hockte er sich wieder vor die Server, schlang seine Arme um die Knie und weinte wie ein Baby.
Nach einer Minute kam Van zu ihm herüber und setzte sich neben ihn, den Arm um Felix‘ Schulter.
„Sie sind tot, Van“, schluchzte Felix. „Kelly und mein S-Sohn. Meine Familie ist tot.“
„Das weißt du nicht sicher“, antwortete Van.
„Sicher genug“, entgegnete Felix. „Gott, es ist alles vorbei, oder?“
„Wir werden hier noch ein paar Stunden hocken bleiben und dann rausgehen. Alles sollte bald wieder sein wie immer. Die Feuerwehr wird sich darum kümmern. Die Armee wird sicher mobilisiert. Alles wird gut.“
Felix‘ Rippen taten weh. Er hatte nicht mehr geweint seit – seit 2.0 geboren worden war. Er umschlang seine Knie noch fester.
Dann öffnete sich die Tür.
Die Augen der beiden hereinkommenden Sysadmins waren weit aufgerissen. Einer hatte ein T-Shirt mit der Aufschrift TALK NERDY TO ME und der andere trug eins von Electronic Frontiers Canada.
„Kommt“, sagte TALK NERDY. “Wir treffen uns alle im obersten Stock. Nehmt die Treppe.“
Felix merkte, dass er den Atem angehalten hatte.
„Falls ein biologischer Wirkstoff in der Luft ist, sind wir alle infiziert“, erklärte TALK NERDY. „Kommt einfach, wir sehen uns da.“
„Da ist noch jemand im sechsten Stock“, sagte Felix, während er aufstand.
„Klar, Will, den haben wir schon. Er ist oben.“
TALK NERDY war einer der Bastard Operators From Hell, die die großen Router ausgestöpselt hatten. Felix und Van kletterten langsam die Stufen herauf, ihre Schritte auf der verlassenen Treppe laut hallend. Nach der eisigen Luft des Käfigs fühlte sich das Treppenhaus an wie eine Sauna.
Es gab eine Cafeteria im obersten Stock, mit funktionierenden Toiletten, Wasser und Kaffee sowie Essen aus dem Automaten. Eine angespannte Schlange von Sysadmins stand vor allen. Keiner sah den anderen direkt an. Felix fragte sich, welcher Will war, und stellte sich dann in die Schlange vor dem Essensautomaten.
Es holte sich ein paar Energieriegel und eine riesige Tasse Vanillekaffee, bevor ihm das Kleingeld ausging. Van hatte ihnen Plätze am Tisch gesichert. Felix legte das Ergatterte vor ihn hin und stellte sich in die Schlange vor der Toilette. „Lass mir was übrig“, mahnte er, Van einen Energieriegel zuwerfend.
Als alle ein wenig zur Ruhe gekommen waren, sich erleichtert und etwas zu essen hatten, kamen TALK NERDY und sein Freund zurück. Sie hatten die Kasse am Ende der Essensausgabe weggeräumt und TALK NERDY stieg auf die Theke. Langsam ebbten die Gespräche ab.
„Ich bin Uri Popovich, das hier ist Diego Rosenbaum. Danke an alle fürs Raufkommen. Was wir sicher wissen, ist folgendes: Das Gebäude läuft jetzt seit drei Stunden auf Notstrom. Augenscheinlich sind wir das einzige Gebäude in Toronto mit Strom – und das sollte noch für drei Tage so bleiben. Draußen hat sich ein biologischer Wirkstoff unbekannter Herkunft breitgemacht. Er tötet schnell, innerhalb von Stunden, und wurde aerosolisiert. Man fängt ihn sich durch das Atmen der Außenluft ein. Seit fünf Uhr heute Morgen hat keiner mehr die Außentüren dieses Gebäudes geöffnet. Und keiner wird das tun, bis ich es gestatte.”
„Durch Angriffe auf Großstädte weltweit herrscht bei den Notfallkräften totales Chaos. Die Angriffe wurden elektronisch, biologisch, atomar und mit konventionellen Sprengstoffen geführt, und sie sind extrem breit gefächert. Ich bin Sicherheitsingenieur, und wo ich herkomme, geht man üblicherweise davon aus, dass derartige Anhäufungen so unterschiedlicher Angriffe opportunistisch sind: Gruppe B jagt eine Brücke in die Luft, weil alle unterwegs sind, um sich um Gruppe A zu kümmern, die davor eine schmutzige Atombombe gezündet hat. Das ist clever. Eine Zelle von Aum Shin Rikyo in Soul hat gegen 2 Uhr morgens unserer Zeit Giftgas in der dortigen U-Bahn versprüht – das ist das früheste Ereignis, auf das wir gestoßen sind, es kann also so etwas wie das Sarajevo-Attentat für das gewesen sein, was wir gerade erleben. Wir sind uns ziemlich sicher, dass Aum Shin Rikyo nicht allein für das Chaos verantwortlich sein kann: Sie haben noch nie einen Informationskrieg geführt und haben sich auch nie so organisiert gezeigt, dass sie so viele Ziele auf einmal ausschalten könnten. Knapp gesagt, dazu sind sie nicht schlau genug.“
„Wir buddeln uns hier für die nächste Zeit ein, zumindest, bis die Biowaffe identifiziert wurde und sich zerstreut hat. Wir werden Leute vor die Racks setzen und die Netzwerke aufrechterhalten. Das ist kritische Infrastruktur, und es ist unser Job sicherzustellen, dass sie ununterbrochen läuft. Während eines nationalen Notstands gilt diese Verantwortung doppelt.”
Ein Sysadmin hob die Hand. Er trug ein grünes Unglaublicher Hulk-T-Shirt, schaute aufmüpfig drein und war eher einer der Jüngeren im Raum.
„Warum glaubst du, dass Du hier der Chef bist?“
„Ich habe die Kontrollen für das Hauptsicherheitssystem, die Schlüssel zu allen Käfigen und die Passcodes für die Außentüren – die übrigens jetzt alle verschlossen sind. Ich bin derjenige, der euch alle überhaupt erst hier heraufgebracht und diese Versammlung einberufen hat. Mir ist völlig egal, ob jemand anderer diesen Job haben will, denn er ist beschissen. Aber einer muss ihn machen.“
„Völlig richtig“, sagte der Jüngere. „Und ich kann ihn mindestens so gut machen wie du. Ich bin Will Sario.“
Popovich rümpfte die Nase über Sario. „Na gut, wenn du mich einfach ausreden lässt, überlasse ich vielleicht alles weitere dir, wenn ich fertig bin.“
„Dann sieh zu, dass du fertig wirst.“ Sario drehte ihm den Rücken zu und ging zum Fenster. Er starrte angespannt hinaus. Felix‘ Blick wurde ebenfalls dort hingezogen und er sah, dass mehrere ölige Rauchfahnen aus der Stadt aufstiegen.
Popovich hatte den Schwung verloren. „Also das ist es, was wir machen werden“, sagte er.
Der Jüngere sah sich nach einem länglichen Moment des Schweigens um. „Oh, bin ich schon dran?“
Ein leichtes Kichern ging durch den Raum.
„Ich sehe es so: Die Welt verreckt gerade. Sämtliche kritische Infrastruktur wird koordiniert angegriffen. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie diese Attacken so konzertiert ausgeführt werden können: Über das Internet. Selbst wenn ihr die Hypothese fresst, dass diese Attacken alle opportunistisch sind, müssen wir uns fragen, wie eine opportunistische Attacke innerhalb von Minuten organisiert werden kann: Das Internet.“
„Du meinst also, wir sollten das Internet abschalten?“ Popovich lachte kurz, hörte aber auf, als Sario nicht darauf reagierte.
„Letzte Nacht haben wir einen Angriff erlebt, der das Internet beinahe total abgewürgt hat. Ein bisschen DoS gegen die zentralen Router, ein bisschen DNS-Foo, und alles geht zu Boden wie das Mädchen beim Matrosen. Die Polizei und das Militär sind ein Haufen DAUs mit Angst vor Technik, sie benutzen das Internet praktisch gar nicht. Wenn wir das Internet abschalten, ist das ein riesiger Nachteil für die Angreifer, aber für die Verteidiger nur eine Unannehmlichkeit. Wenn die Zeit reif dafür ist, können wir es wieder hochziehen.“
„Du verarscht mich“, entgegnete Popovich. Sein Mund hing sprichwörtlich offen.
„Es ist nur logisch”, sagte Sario. „Viele Leute scheuen vor der Logik zurück, wenn sie harte Entscheidungen diktiert. Das ist aber deren Problem, nicht das der Logik.
Es entspannen sich Gespräche, die schließlich zu einem Tosen anschwollen.
„KLAPPE!”, blaffte Popovich. Die Gespräche wurden um ein Watt leiser. Popovich schrie nochmal und stampfte mit dem Fuß auf die Theke. Schließlich kehrte so etwas wie Ordnung ein. „Einer nach dem Anderen“, sagte er. Er war knallrot, die Hände in den Taschen.
Ein Sysadmin war fürs Bleiben. Ein anderer fürs Gehen. Sie sollten sich in den Käfigen verkriechen. Sie sollten Inventur über ihre Vorräte machen und einen Quartiersmeister wählen. Sie sollten nach draußen gehen und die Polizei suchen, oder sich als freiwillige Helfer an Krankenhäusern melden. Sie sollten Verteidiger ernennen, die für die Sicherheit der Vordertüren verantwortlich waren.
Zu seiner Überraschung stellte Felix fest, dass er selbst die Hand erhoben hatte. Popovich rief ihn auf.
„Mein Name ist Felix Tremont“, sagte er und stieg auf einen der Tische, wo er seinen PDA herausholte. „Ich möchte Euch etwas vorlesen.“
„‘Regierungen der Industrienationen, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen unserer Zukunft fordere ich euch, die ihr die Vergangenheit seid, auf, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid unter uns nicht willkommen. Ihr habt keinerlei Gewalt da, wo wir uns versammeln.
Wir haben keine gewählte Regierung und werden wahrscheinlich nie eine haben, darum richte ich mich an euch mit keiner größeren Autorität als der, mit der die Freiheit selbst spricht. Ich erkläre den globalen gesellschaftlichen Raum, den wir aufbauen, für von Natur aus unabhängig von den Tyranneien, die ihr uns überstülpen wollt. Ihr habt weder das moralische Recht, uns zu beherrschen, noch verfügt ihr über irgendwelche Möglichkeiten der Durchsetzung, die wir wirklich fürchten müssten.
Regierungen leiten ihre rechtmäßige Gewalt von der Zustimmung der Regierten ab. Ihr habt um unsere weder gebeten noch sie erhalten. Wir haben euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb eurer Grenzen. Glaubt nicht, dass ihr ihn bauen könntet wie ein öffentliches Bauprojekt. Ihr könnt es nicht. Er ist ein Akt der Natur und er wächst aus sich selbst als Folge unserer gemeinsamen Handlungen.‘
Das stammt aus der Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Es wurde vor 12 Jahren geschrieben. Für mich gehörte es zum Schönsten, das je geschrieben wurde. Ich wollte, dass mein Kind in einer Welt aufwächst, in der der Cyberspace frei ist – und wo diese Freiheit die reale Welt ansteckt, damit die Welt aus Fleisch und Blut ebenfalls freier wird.“
Er schluckte schwer und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Van tätschelte ungeschickt seinen Schuh.
„Mein wunderschöner Sohn und meine wunderschöne Frau sind heute gestorben. Und Millionen andere ebenso. Die Stadt steht buchstäblich in Flammen. Ganze Städte sind von der Karte verschwunden.“
Ein Schluchzen stieg in ihm auf, das er wieder herunterschluckte.
„Überall auf der Welt sind Leute wie wir in Gebäuden wie diesem versammelt. Sie haben versucht, den Wurm von letzter Nacht unter Kontrolle zu bringen, als die Katastrophe zugeschlagen hat. Wir haben Notstrom. Essen.
Wir haben das Netz, das die Bösen so gut zu nutzen wissen und das die Guten nie verstanden haben.
Wir teilen die Liebe zur Freiheit, die entspringt, weil wir uns um das Netz kümmern und weil uns das Netz etwas bedeutet. Wir haben die Verantwortung für das wichtigste Werkzeug zur Organisation und Regierung, das die Welt je gekannt hat. Für die Welt sind wir momentan das, was einer Regierung am nächsten kommt. Der East River brennt und die UN sind verwaist.
Die Verteilte Republik des Cyberspace hat diesen Sturm im Prinzip unbeschadet überstanden. Wir sind die Hüter einer unsterblichen, monströsen, wundervollen Maschine, einer mit dem Potenzial, eine bessere Welt neu aufzubauen.
Ich habe nichts, wofür ich leben kann, als das.“
Van hatte Tränen in den Augen. Er war nicht der einzige. Sie applaudierten ihm nicht, aber sie taten etwas Besseres. Sie verharrten in respektvollem, völligem Schweigen, dessen Sekunden sich zu einer Minute streckten.
„Wie gehen wir es an?“, fragte Popovich, ohne die Spur von Sarkasmus.
#
Die Newsgroups füllten sich rasch. Sie hatten sie in news.admin.net-abuse.email bekannt gegeben, wo sich sämtliche Spambekämpfer tummelten und wo es eine geschlossene Kultur der Kameradschaft gab, wenn einem der Wind hart ins Gesicht wehte.
Die neue Gruppe hieß alt.november5-disaster.recovery mit .recovery.governance, .recovery.finance, .recovery.logistics sowie .recovery.defense als weitere Extensions. Gesegnet seien die ungezähmte alt.-Hierarchie und alle, die unter ihr segeln.
Die Sysadmins kamen jetzt in Scharen. Das Googleplex war online, mit der unerschütterlichen Queen Kong als Antreiberin ihrer Rollerblade-Brigade, die durch die gigantischen Rechenzentren sausten, tote Kisten austauschten und Reboot-Knöpfe drückten. Das Internet Archive im Park Presidio Boulevard war offline, aber der Mirror in Amsterdam war online und sie hatten eine DNS-Umleitung eingerichtet, weshalb man kaum einen Unterschied bemerkte. Amazon war down. PayPal war online. Blogger, Typepad und Livejournal waren alle online und füllten sich mit Millionen von Posts von verängstigten Überlebenden, die sich für ein bisschen elektronische Wärme aneinanderschmiegten.
Die Photostreams bei Flicker waren schrecklich. Felix musste seinen Account abmelden, nachdem er auf ein Foto von einer Frau und einem Baby gestoßen war, beide tot in einer Küche und von dem Biokampfstoff zu gequälten Hieroglyphen zusammengekrümmt. Sie sahen nicht aus wie Kelly und 2.0, aber das war auch gar nicht nötig. Er begann zu zittern und konnte nicht aufhören.
Wikipedia war zwar online, lahmte aber unter der Last. Spam flutete herein, als hätte sich gar nichts geändert. Würmer zogen ihre Bahnen durch das Netzwerk.
.recovery.logistics war der Ort, an dem das meiste los war.
> Wir können den Abstimmungsmechnismus der Newsgroup nutzen, um Regionalwahlen
> abzuhalten
Felix wusste, dass das funktionieren würde. Usenet-Newsgroups liefen seit über zwanzig Jahren ohne echte Probleme.
> Wir wählen Regionalvertreter und die ernennen einen Premierminister.
Die Amerikaner bestanden auf einem Präsidenten, was Felix nicht gefiel. Es roch zu sehr nach Gefolgschaft. Seine Zukunft würde nicht die amerikanische Zukunft sein. Die amerikanische Zukunft war mit dem Weißen Haus in Rauch aufgegangen. Er wollte etwas Größeres aufbauen.
Es gab französische Sysadmins von France Telecom im Netz. Das Datenzentrum der EBU war von den Angriffen verschont geblieben, die auf Genf eingeprasselt waren, und es war voll mit trockenen Deutschen, deren Englisch besser war als das von Felix. Mit den Resten des BBC-Teams in Canary Wharf kamen sie gut klar.
In .recovery.logistics wurde ein vielsprachlich geprägtes Englisch gesprochen, und Felix hatte das Moment auf seiner Seite. Einige der Admins kühlten die unausweichlichen Flamewars mit langjähriger Übung ab. Einige warfen nützliche Vorschläge ein.
Überraschend wenige glaubten, Felix tickte nicht richtig.
> Ich denke, wir sollten so bald wie möglich Wahlen abhalten. Spätestens morgen. Wir können nicht rechtmäßig regieren ohne die Zustimmung der Regierten.
Innerhalb von Sekunden landete die Antwort in seiner Inbox.
> Das kann nicht Dein Ernst sein. Zustimmung der Regierten? Sofern ich mich nicht irre, kotzen sich die Leute, die Du zu regieren vorhast, die Seele aus dem Leib, verstecken sich unterm Schreibtisch oder geistern traumatisiert durch die Straßen. Wann bekommen DIE eine Stimme?
Felix musste zugeben, dass sie da einen Punkt getroffen hatte. Queen Kong hatten einen scharfen Verstand. Es gab nicht viele weibliche Sysadmins, und das war eine echte Tragödie. Frauen wie Queen Kong waren zu gut, um sie aus dem Spiel zu lassen. Er musste sich irgendeine Lösung einfallen lassen, wie er einen angemessenen Frauenanteil in diese neue Regierung brachte. Vorschreiben, dass alle Regionen je eine Frau und einen Mann wählen müssen?
Er stürzte sich erfreut in die Diskussion mit ihr. Die Wahlen würden am nächsten Tag stattfinden; dafür würde er sorgen.
#
„Premierminister des Cyberspace? Warum nicht gleich Großmufti des Weltweiten Datennetzwerks? Das ist würdevoller, klingt cooler und bedeutet praktisch das Gleiche.“ Will hatte den Schlafplatz direkt neben ihm, oben in der Cafeteria, mit Van an der anderen Seite. Der Raum roch wie ein Pumakäfig: fünfundzwanzig Sysadmins, die sich mindestens einen Tag lang nicht gewaschen hatten zusammengepfercht im gleichen Zimmer. Für einige von ihnen war es viel, viel länger als ein Tag gewesen.
„Halt die Klappe, Will“, sagte Van. „Du wolltest doch versuchen, das Internet komplett offline zu nehmen.“
„Korrektur: Ich will das Internet komplett offline nehmen. Präsens.“
Felix hob eines seiner Lider. Er war so müde, dass es sich wie Gewichtgeben anfühlte.
„Pass auf, Sario – wenn dir meine Plattform nicht gefällt, dann mach eben deine eigene auf. Jede Menge Leute glauben, dass ich nur Mist verzapfe, und ich respektiere sie dafür, weil sie alle für die Gegenseite kandidieren oder jemanden unterstützen, der das tut. Das steht Dir völlig frei. Was dir nicht freisteht, ist nörgeln und sich beschweren. Also schlaf jetzt entweder oder steh auf und stell deine eigene Plattform online.“
Sario setzte sich langsam auf, wickelte die aufgerollte Jacke ab, die er als Kopfkissen benutzte, und zog sie an. „Fickt euch doch alle, ich bin hier raus.”
“Ich dachte, der geht nie“, sagte Felix, drehte sich um, lag aber noch lange wach und dachte über die Wahl nach.
Es gab noch andere Leute in diesem Wahlkampf. Einige von ihnen waren nicht einmal Sysadmins. Ein US-Senator, der sich in sein Sommerhaus in Wyoming zurückgezogen hatte, hatte einen Generator und ein Satellitentelefon. Irgendwie hatte er die richtige Newsgroup gefunden und seinen Hut in den Ring geworfen. Einige anarchistische Hacker in Italien beharkten die Gruppe die ganze Nacht hindurch und schwadronierten in gebrochenem Englisch über den politischen Bankrott der „Herrschaft“ in der neuen Welt. Felix schaute sich ihren Netzblock an und stellte fest, dass sie sich wahrscheinlich irgendwo in einem kleinen Institut für Interaktionsdesign bei Turin eingegraben hatten. Italien war besonders schwer getroffen worden, aber diese Anarchistenzelle hatte sich draußen in der Kleinstadt niedergelassen
Überraschend viele kandidierten auf einer Plattform, die für die Abschaltung des Internets war. Felix hatte seine Zweifel, ob das überhaupt möglich war, aber er glaubte, den Impuls zu verstehen, den ganzen Mist einfach abzuschalten und sich die Welt vom Leib zu halten. Warum nicht?
Er schlief ein, während er über die Logistik einer Abschaltung des Internets nachdachte, und hatte schlechte Träume, in denen er der einzige Verteidiger des Netzes war.
Er erwachte und hörte ein trockenes Schubbern. Er rollte herum und sah, dass Van neben ihm saß, die Jacke im Schoß zusammengerollt, und heftig seine dürren Arme kratzte. Sie hatten die Farbe von Mortadella angenommen und sahen schuppig aus. Im Licht, das durch die Fenster der Cafeteria fiel, schwebten und tanzten große Wolken von Hautschuppen.
„Was veranstaltest Du da?“ Felix setzte sich auf. Schon der Anblick, wie Van seine Fingernägel in seine Haut schlug und sie kratzte, erzeugte das Gefühl, dass es auch ihn juckte. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr die Haare und den Kopf gewaschen, und seine Kopfhaut fühlte sich an, als würden winzige eierlegende Insekten auf Trampelpfaden hindurchmarschieren. Am Abend vorher hatte er seine Brille zurechtgerückt und dabei hinter seine Ohren gefasst; seine Finger waren danach mit dickem Talg verschmiert gewesen. Er bekam Pickel hinter den Ohren, wenn er für ein paar Tage nicht duschte, und manchmal riesige, tiefe Eiterbeulen, die Kelly irgendwann mit kranker Freude aufplatzen ließ.
„Mich kratzen,” erwiderte Van. Er wandte sich jetzt seinem Kopf zu, worauf eine Wolke von Schuppen aufstieg, die sich mit dem Hautschorf vereinigte, den er bereits von seinen Armen und Beinen abgeschrubbt hatte. „Gott, mich juckte es überall.“
Felix nahm Mayor McCheese aus Vans Rucksack und stöpselte ihn an eines der Ethernet-Kabel, die sich überall auf dem Boden schlängelten. Er googelte alles Erdenkliche, das damit zusammenhängen könnte. „Jucken“ ergab 2.800.000 Treffer. Er versuchte mehrfache Suchbegriffe und bekam Treffer, die ein wenig spezifischer waren.
„Ich glaube, es ist ein stressbedingtes Ekzem“, stellte Felix schließlich fest.
„Ich kriege nie Ekzeme”, meinte Van.
Felix zeigte ihm einige Gruselbilder von roter, gereizter Haut mit weißen Flocken darauf. „Stressbedingtes Ekzem“, las er die Bildunterschrift vor.
Van begutachtete seine Arme. “Ich habe ein Ekzem“, stimmte er zu.
„Es heißt hier, man soll es mit Eincremen und Kortison-Salbe versuchen. Du könntest mal im Erste Hilfe-Kasten in der Toilette im zweiten Stock nachsehen. Ich meine, da welche gesehen zu haben.“ Wie alle Sysadmins hatte Felix in sämtlichen Büros, Waschräumen, Küchen und Lagerräumen herumgekramt, wobei er sich eine Rolle Toilettenpapier unter den Nagel gerissen und zusammen mit drei oder vier Powerriegeln in seine Schultertasche gesteckt hatte. Das Essen wurde in der Cafeteria durch stillschweigende Übereinkunft miteinander geteilt, und jeder Sysadmin beäugte alle anderen, ob sie nicht zu viel herunterschlangen oder heimlich horteten. Alle waren überzeugt, dass genau das still und heimlich hinter ihrem Rücken passierte, weil alle selbst genauso schuldig waren, sich zu nehmen, was sie kriegen konnten, wenn keiner hinsah.
Van stand auf, und als das Licht auf sein Gesicht fiel, sah Felix wie geschwollen seine Augen waren. „Ich werde in der Mailingliste eine Anfrage für Antihistaminika stellen“, sagte Felix. Nur Stunden nachdem das erste Meeting beendet war, hatte es bereits vier Mailinglisten und drei Wikis für die Überlebenden im Gebäude gegeben, aber in den bis hierher vergangenen Tagen hatte man sich auf eine einzige geeinigt. Felix stand immer noch auf einer Mailingliste von fünf seiner vertrautesten Freunde, von denen zwei in Käfigen in anderen Ländern festsaßen. Er vermutete, dass der Rest der Sysadmins es ebenso machte.
Van stolperte davon. „Viel Glück bei den Wahlen“, meinte er noch und tätschelte Felix‘ Schulter.
Felix stand auf und ging auf und ab, wobei er anhielt, um aus dem schmuddeligen Fenster zu sehen. Die Feuer brannten immer noch in Toronto, sogar mehr als vorher. Er hatte versucht, Mailinglisten oder Blogs zu finden, auf denen Leute aus Toronto posteten, aber die einzigen, auf die er gestoßen war, wurden von anderen Geeks in Rechenzentren geführt. Es war möglich – sogar wahrscheinlich –, dass es da draußen Überlebende gab, die dringendere Sorgen hatten, als im Internet zu posten. Sein Telefon zuhause funktionierte immer noch etwa die Hälfte der Zeit, aber er hatte am zweiten Tag aufgehört, dort anzurufen, nachdem Kellys Stimme auf dem Anrufbeantworter ihn mitten in einem Planungstreffen in Tränen hatte ausbrechen lassen. Er war nicht der einzige.
Wahltag. Zeit, Farbe zu bekennen.
> Bist Du nervös?
> Nö,
tippte Felix.
> Ist mir ziemlich egal, ob ich gewinne, um ehrlich zu sein. Ich bin einfach froh, dass wir das machen. Die Alternative wäre, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, darauf wartend, dass jemand durchdreht und die Tür aufmacht.
Der Cursor hing. Queen Kong hatte eine ziemlich hohe Latenz, weil sie ihre Bande von Googloids durch das Googleplex scheuchen musste und alle Hände voll zu tun hatte, ihr Rechenzentrum online zu halten. Drei der Käfige in Übersee waren offline gegangen, und zwei der sechs redundanten Netzwerkverbindungen waren Toast. Ihr Glück, dass die Häufigkeit der Anfragen ebenfalls im Keller war.
> Es gibt immer noch China
tippte sie. Queen Kong hatte eine große Tafel mit einer Weltkarte, die die Zahl der Google-Anfragen pro Sekunde anzeigte, mit der sie alles Mögliche wie durch Magie anstellte, etwa die zeitliche Abnahme der Suchanfragen in farbenprächtigen Diagrammen. Sie hatte jede Menge Videoclips hochgeladen, die zeigten, wie die Seuche und die Bomben die Welt leergefegt hatten: Das anfängliche Anschwellen der Suchen von Leuten, die herausfinden wollten, was eigentlich vorging, und dann der unerbittliche, steile Abfall, als die Seuche um sich griff.
> China läuft immer noch auf 90 Prozent des üblichen Niveaus.
Felix schüttelte den Kopf.
> Du kannst nicht glauben, dass die dafür verantwortlich sind.
> Nein
Sie tippte, begann dann aber, etwas nebenbei einzugeben, und hielt inne.
> Nein, natürlich nicht. Ich glaube die Popovich-Hypothese. Das sind ein Haufen Arschlöcher, die die Anderen als Deckung missbrauchen. Aber China hat ihnen härter und schneller als alle anderen Einhalt geboten. Vielleicht haben wir am Ende doch etwas Brauchbares an totalitären Staaten gefunden.
Felix konnte nicht widerstehen. Er schrieb:
> Du hast Glück, dass Dein Boss nicht sieht, dass Du das schreibst. Ihr habt doch ziemlich begeistert bei der Großen Chinesischen Firewall mitgemacht.
> War nicht meine Idee,
schrieb sie.
> Und mein Boss ist tot. Wahrscheinlich sind sie alle tot. Die gesamte Bay Area hat es schwer erwischt, und dann war da noch das Beben.
Sie hatten den automatischen Daten-Stream des USGS über das Erdbeben mit Stärke 6,9 geschaut, das Nordkalifornien von Gilroy bis Sebastopol in Trümmer gelegt hatte. Einige Webcams ließen das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennen – explodierende Hauptgasleitungen, nachträglich erdbebensicher gemachte Gebäude, die wie Bauklötze in sich zusammenfielen. Das Googleplex, das auf einer Reihe riesiger Stahlfedern stand, hatte gewackelt wie ein Lämmerschwanz, aber die Rechner-Racks hatten gehalten und die schwerste Verletzung – ein blaues Auge – hatte ein Sysdmin davongetragen, der von einer fliegenden Crimpzange im Gesicht getroffen wurde.
> Sorry, hatte ich vergessen.
> Schon OK. Wir alle haben jemanden verloren, oder?
> Ja, ja… Aber trotzdem, ich mache mir keine Sorgen wegen der Wahl. Wer auch immer gewinnt, zumindest tun wir IRGENDWAS
> Nicht, wenn sie eine dieser Wichslappen wählen
Wichslappen war das Wort, das einige für diejenigen benutzten, die das Internet abschalten wollten. Queen Kong hatte es gemünzt – offensichtlich ein Sammelbegriff, der aus ihrer Erfahrung mit den ahnungslosen IT-Managern entsprungen war, gegen die sie sich im Laufe ihrer Karriere durchboxen musste.
> Wird nicht passieren. Die sind einfach müde und traurig, mehr nicht. Deine Empfehlung wird den Ausschlag geben
Die Googloids waren einer der größten und mächtigsten verbleibenden Blöcke, zusammen mit den Mannschaften für die Satelliten-Uplinks und den Überseeverkehr. Queen Kongs Empfehlung war überraschend gekommen, und er hatte ihr eine E-Mail geschrieben, auf die sie knapp geantwortet hatte: „Wichslappen an der Macht geht gar nicht.“
> gtg
schrieb sie und ihre Verbindung war weg. Er schmiss einen Browser an und rief google.com auf. Der Browser zeigte nur timeout. Er klickte auf neu laden, dann nochmal, und dann war die Startseite von Google wieder da. Was immer den Arbeitsplatz von Queen Kong erwischt hatte – Stromausfall, Würmer, ein neues Beben –, sie hatte es repariert. Er grunzte als er sah, dass sie die Os im Google -Logo durch keine Erdbälle mit aufsteigenden Pilzwolken ersetzt hatten.
#
„Hast du irgendwas Essbares?”, fragte ihn Van. Es war mitten am Nachmittag, wobei es im Datenzentrum eigentlich egal war, welche Uhrzeit sie tatsächlich hatten. Felix klopfte seine Taschen ab. Sie hatten zwar einen Quartiersmeister ernannt, aber nicht, bevor jeder sich noch etwas zu futtern aus den Automaten geschnappt hatte. Er hatte sich ein Dutzend Energieriegel und ein paar Äpfel gesichert. Er hatte auch ein paar Sandwiches genommen, die aber klugerweise zuerst gegessen, damit sie nicht alt wurden.
„Hab noch ´nen Energieriegel”, sagte er. An diesem Morgen hatte er ein gewisses Schlackern um seine Taille herum bemerkt und sich kurz darüber gefreut. Dann erinnerte er sich daran, wie Kelly ihn mit seinem Gewicht aufgezogen hatte, und er hatte etwas geweint. Dann hatte er zwei Energieriegel gegessen, wonach ihm nur noch einer blieb.
„Oh“, entfuhr es Van. Sein Gesicht schien noch schmaler als jemals zuvor und seine Schultern hingen auf seine klapperdürre Brust hinab.
„Hier“, meinte Felix. „Und wähl Felix.“
Van nahm den Energieriegel entgegen und legte ihn dann auf den Tisch. „OK, ich würde dir den gerne wiedergeben und sagen: ‚Tut mir leid, das kann ich nicht‘, aber ich hab so verdammten Kohldampf, also werde ich ihn einfach nehmen und essen, OK?“
„Ist völlig in Ordnung”, antwortete Felix. „Guten Appetit.“
„Wie sieht es bei den Wahlen aus?“, fragte ihn Van, nachdem er auch noch das Einwickelpapier abgeleckt hatte.
„Weiß nicht”, war Felix’ Antwort. „Habe eine ganze Weile nicht mehr nachgesehen.“ Er hatte ein paar Stunden zuvor um eine Winzigkeit gewonnen. Seinen Laptop nicht bei sich zu haben, war ein gewaltiges Handicap bei derartigen Sachen. Oben in den Käfigen saßen ein Dutzend andere, denen es genauso ging, arme Schweine, die ihr Haus an DEM TAG verlassen hatten, ohne sich irgendwas WLAN-fähiges unter den Arm geklemmt zu haben.
„Du wirst gegrillt“, sagte Sario, während er sich an ihre Seite schob. Er war im Zentrum berühmt dafür, nie zu schlafen, überall zu lauschen und auch im realen Leben ständig auf Krawall aus zu sein, stets mit der gleichen unbedachten Hitzigkeit wie ein Flamewar im Usenet. „Es wird jemand gewinnen, der ein paar grundlegende Fakten schnallt.“ Er hielt eine Faust hoch, dann hob er einen Finger nach dem anderen um seine Ansichten aufzuzählen: „Punkt: Die Terroristen benutzen das Internet, um die Welt zu zerstören, und wir müssen zuerst das Internet zerstören. Punkt: Oder falls wir das nicht tun, dann nur deswegen, weil die alte Welt wieder zurück sein und wie immer laufen wird, und die wird einen Scheiß auf deine neue Welt geben. Punkt: Uns wird das Essen ausgehen, bevor uns der Mist ausgeht, über den wir streiten können, oder die Gründe, warum wir nicht herausgehen sollen. Wir haben die Chance, etwas zu tun, was hilft, die Welt wieder aufzubauen: Wir können das Netz abschalten und es als Werkzeug für die Bösen unbrauchbar machen. Oder wir können im Dienst irgendeines süßen Traums von einem „unabhängigen Cyberspace“ noch ein paar Liegestühle auf der Brücke deiner persönlichen Titanic aufstellen.“
Die Sache war, dass Sario Recht hatte. In zwei Tagen würde ihnen der Sprit ausgehen – unregelmäßig einsetzender Strom aus dem Leitungsnetz hatte die Laufzeit ihrer Generatoren immerhin verlängert. Und wenn man seine Hypothese kaufte, dass das Internet vor allem als Werkzeug genutzt wurde, um noch mehr Unheil anzurichten, wäre seine Abschaltung das Richtige.
Aber Felix‘ Sohn und seine Frau waren tot. Er wollte die alte Welt nicht wieder aufbauen. Er wollte eine neue. Die alte Welt war eine, in der kein Platz für ihn war. Nicht mehr.
Van kratzte seine rohe, schuppende Haut. Wölkchen von Schuppen und Schorf wirbelten in der muffigen, schmierigen Luft. Sario verzog den Mund. „Das ist widerlich. Wir atmen recycelte Luft, weißt du. Egal welche Art Aussatz dich auffrisst, sie freigiebig in die Luft zu pusten ist ziemlich asozial.“
„Was asozial angeht, bist du die weltweit führende Autorität, Sario“, warf Van ein. „Geh weg, oder ich mach dich mit meinem Multitool alle.“ Er hörte auf, sich zu kratzen, und tätschelte seine Tasche mit seinem Allzweckwerkzeug wie ein Revolverheld.
„Ja, ich bin asozial. Ich habe Asperger und habe vier Tage lang meine Medikamente nicht genommen. Was ist deine verdammte Entschuldigung?”
Van kratzte sich weiter. “Tut mir leid“, sagte er, „das wusste ich nicht.“
Sario platzte. “On Mann, du bist unbezahlbar. Ich wette, dass drei Viertel dieses Haufens autistische Grenzfälle sind. Ich dagegen bin einfach nur ein Arschloch. Aber ich bin eines, dass keine Angst hat, die Wahrheit auszusprechen, und das macht mich besser als du, Flachwichser.“
„Wichslappen“, sagte Felix, „verzieh dich.“
#
Sie hatten Treibstoff für weniger als einen Tag, als Felix zum allerersten Premierminister des Cyberspace gewählt wurde. Die erste Zählung wurde durch einen Bot ruiniert, der den Wahlprozess vollspammte, weshalb sie einen wichtigen Tag verloren, während sie die Stimmen ein zweites Mal auszählten.
Bis es so weit war, sah das alles aber eher wie ein Witz aus. In der Hälfte der Rechenzentren war das Licht ausgegangen. Queen Kongs Karten der Google-Suchen im Netz sahen düsterer und düsterer aus, je mehr von der Welt offline ging, obwohl sie eine Rangliste neuer und aufstrebender Suchbegriffe führte – die meisten zu Gesundheit, sicherem Unterschlupf, Hygiene und Selbstverteidigung.
Die Wurmlast wurde geringer. In vielen Wohnungen, in denen noch Rechner liefen, fiel der Strom aus und kam nicht wieder, wodurch die kompromittierten PCs wegfielen. Die Backbones waren immer noch am Netz und ihre Lichter blinkten, aber die Mitteilungen, die sie aus diesen Rechenzentren erhielten, wurden verzweifelter und verzweifelter. Felix hatte einen Tag lang nichts gegessen, genauso wenig wie die Admins in den Bodenstationen oder den Anlandestellen der unterseeischen Kabel.
Auch das Wasser ging langsam aus.
Popovich und Rosenbaum kamen und holten ihn, bevor er mehr tun konnte als auf ein paar Glückwünsche zu antworten und eine voraufgezeichnete Antrittsrede auf die Newsgroups hochzuladen.
„Wir machen die Türen auf“, erklärte Popovich. Wie sie alle hatte auch er Gewicht verloren und sah ungepflegt und schmierig aus. Sein Körpergeruch erinnerte an eine Wolke aus einem an einem sonnigen Tag hinter einem Fischmarkt abgeladenen Müllsack. Felix war sich ziemlich sicher, dass er selbst nicht besser roch.
„Ihr wollt auf Erkundung gehen? Treibstoffnachschub holen? Wir können eine Arbeitsgruppe dazu ins Leben rufen – großartige Idee.“
Rosenbaum schüttelte traurig den Kopf. „Wir werden unsere Familien suchen gehen. Was immer da draußen war, ist mittlerweile ausgebrannt. Oder auch nicht. So oder so gibt es hier drin keine Zukunft.“
„Und was ist mit der Netzinstandhaltung?“, fragte Felix, obwohl er die Antworten kante. „Wer hält die Router am Laufen?“
„Wir geben dir das Root-Passwort für alles“, antwortete Popovich. Seine Hände zitterten und seine Augen waren geschwollen. Wie viele der im Rechenzentrum festhängenden Raucher war er seit dieser Woche auf kaltem Entzug. Außerdem waren ihnen zwei Tage davor die Koffeinprodukte ausgegangen. Es war hart für die Raucher.
„Und ich bleibe einfach hier und halte alles online?“
„Du und jeder andere, den es noch interessiert.“
Felix wusste, dass er seine Gelegenheit verpasst hatte. Die Wahl war ihm edel und mutig erschienen, aber rückblickend war sie eine Ausrede gewesen, um sich untereinander zu streiten, während sie eigentlich gemeinsam hätten herausfinden müssen, was als Nächstes zu tun war. Das Problem war, dass es nichts Nächstes zu tun gab.
„Ich kann Euch zum Bleiben zwingen“, sagte er.
„Aber klar doch. Kannst du nicht.“ Popovich drehte sich auf der Stelle um und ging hinaus. Rosenbaum sah ihm nach, danach griff er Felix an die Schulter und drückte sie.
„Danke, Felix. Es war ein schöner Traum. Ist es noch. Vielleicht finden wir was zu essen und etwas Treibstoff, dann kommen wir zurück.“
Rosenbaum hatte eine Schwester, mit der er während der ersten Tage nach Ausbruch der Krise über Instant Messaging in Kontakt gestanden hatte. Danach hatte sie nicht mehr geantwortet. Unter den Sysadmins gab es welche, die sich hatten verabschieden können, und solche, denen das verwehrt blieb Beide Seiten waren sicher, dass die andere es besser hatte. Sie posteten darüber in der internen Newsgroup – schließlich waren sie immer noch Geeks.
Im Erdgeschoss gab es eine Ehrengarde, die zusah, wie die Gruppe auf die Doppeltüren zuging. Sie machten sich an den Keypads zu schaffen und die Stahlrolläden hoben sich; dann öffneten sich die inneren Türen. Sie schritten in den Vorraum und zogen die Türen hinter sich zu. Die Außentüren gingen auf. Draußen war es sehr hell und sonnig, und abgesehen von der Leere sah alles sehr normal aus. Herzzerreißend normal.
Die beiden wagten einen zaghaften Schritt in die Außenwelt. Dann noch einen. Sie drehten sich um, um der versammelten Masse zu winken. Beide griffen sich an die Kehlen, begannen zu zucken und brachen, sich krümmend, zusammen.
„Schei—!“. war alles war Felix herausbringen konnte, bevor sich die beiden abstaubten und aufstanden, wobei sie so laut lachten, dass sie sich die Seiten hielten. Sie winkten nochmal und drehten sich um.
„Mann, die Typen sind total krank“, schnaubte Van. Es kratzte seine Arme, die lange, blutige Striemen aufwiesen. Seine Kleider waren so von Schorf übersät, dass sie aussahen, als hätte jemand Puderzucker über ihm ausgeschüttet.
„Ich fand es ziemlich witzig.“, meinte dagegen Felix.
„Gott, habe ich Hunger”, sagte darauf Van wie nebenbei.
„Du hast Glück, wir haben so viele Pakete, wie wir essen können.“, versicherte ihm Felix.
„Sie sind zu gut zu uns Fußvolk, Mr. President.“, grinste Van.
„Premierminister”, verbesserte Felix. “Und Du bist kein Fußvolk, Du bist der Vize-Premierminister. Du bist der, den ich auserkoren habe, Bänder durchzuschneiden oder gigantische Schecks zu übergeben.“
Das Flachsen hob ihre Stimmung deutlich. Nachdem sie Popovich und Rosenbaum ziehen lassen mussten, baute es sie auf. Felix wusste, dass sie in Kürze wohl alle gehen würden.
Aufgrund der begrenzten Treibstoffvorräte war das unausweichlich, aber wer wollte schon darauf warten, dass der Sprit wirklich ausging?
#
> die Hälfte meiner Crew ist heute Morgen gegangen
schrieb Queen Kong. Google hielt sich natürlich trotzdem noch ziemlich gut. Die Serverlast war um vieles leichter als selbst in jenen Tagen, als Google noch auf ein paar handgebauter PCs unter einem Schreibtisch in Stanford gepasst hatte.
> wir sind auf ein Viertel geschrumpft
schrieb Felix zurück. Popovich und Rosenbaum waren erst vor einem Tag gegangen, aber der Traffic in den Newsgroups war auf nahezu null gefallen. Er und Van hatten nicht viel Zeit, Republik des Cyberspace zu spielen. Sie hatten viel zu viel damit zu tun gehabt, die Systeme kennenzulernen, die Popovich ihnen übergeben hatte, die gigantischen Router, die weiterhin als die Hauptknoten für sämtliche Netzwerk-Backbones in Kanada gedient hatten.
Trotzdem postete hin und wieder jemand etwas in den Newsgruppen, in der Regel, um sich zu verabschieden. Die alten Flamewars darüber, wer Premierminister sein würde oder ob man das Internet abschalten sollte oder ob jemand sich zu viel Essen nahm – all das war vergangen.
Er lud die Newsgroup neu. Es gab die typische Nachricht.
> Prozesse mit hoher Auslastung auf Solaris
>
> Äh, hallo. Ich bin nur ein simpler MSCE, aber ich bin der Einzige hier, der gerade wach ist, und vier der DSL-Multiplexer sind gerade ausgefallen. Sieht aus, als gäbe es irgendein spezielles Buchhaltungsprogramm, das herauszufinden versucht, wie viel wir unseren Firmenkunden berechnen sollen, und das hat zehntausend Threads erzeugt und frisst jetzt den gesamten Auslagerungsspeicher. Ich möchte es einfach abschießen, aber irgendwie klappt das nicht. Muss ich irgendeine Zauberformel aufsagen, um diese verdammte Weenix-Kiste dazu zu bringen, das Ding zu beenden? Ich meine, kaum einer unserer Kunden wird uns wohl jemals wieder bezahlen, oder? Ich würde ja den Typen fragen, der diesen Code geschrieben hat, aber der ist wohl ziemlich tot nach allem, was wir hier herausfinden konnten.
Er lud nochmal neu. Es gab eine Antwort. Sie war knapp, eindeutig und hilfreich – ganz einfach etwas, was man in hochkalibrigen Newsgruppen praktisch nie zu Gesicht bekam, wenn ein Noob eine dumme Frage postete. Die Apokalypse hatte in der Sysop-Gemeinde den Geist geduldiger Hilfsbereitschaft geweckt.
Van streifte seine Schulter. „Heilige Scheiße, wer hätte gedacht, dass er so was kann?“
Er sah sich die Nachricht noch einmal an. Sie kam von Will Sario.
Er legte seinen Cursor ins Chatfenster.
> sario, ich dachte, du wolltest das netz tot sehen, warum hilfst du msces, ihre kisten in ordnung zu bringen?
> <verlegenes Grinsen> Na ja, Herr Premierminister, vielleicht kann ich es einfach nicht ertragen zu sehen, wie ein Computer unter den Händen eines Amateurs leidet.
Er sprang zum Kanal mit Queen Kong.
> Wie lange?
> Seit ich geschlafen habe? Zwei Tage. Bis uns der Sprit ausgeht? Drei Tage. Seit uns das Essen ausgegangen ist? Zwei Tage.
> Oh Mann. Ich habe letzte Nacht auch nicht geschlafen. Wir sind alle ein bisschen unterbesetzt hier.
> asl? Ich bin Monica und wohne in Pasadena und habe Langeweile, weil ich Hausaufgaben machen soll. Möchtest du ein Bild von mir herunterladen???
Die Trojaner-Bots hatten in letzter Zeit im IRC überhandgenommen und sprangen in jeden Kanal, auf dem noch Traffic war. Manchmal erwischte man fünf oder sechs dabei, miteinander zu flirten. Es war ziemlich schräg zuzusehen, wie ein Stück Malware versuchte, eine andere Instanz seiner selbst dazu zu überreden, einen Trojaner herunterzuladen.
Beide schmissen den Bot gleichzeitig aus dem Kanal. Er hatte jetzt ein Skript dafür. Spam hatte nicht mal ansatzweise nachgelassen.
> Wie kommt es, dass immer noch so viel Spam unterwegs ist? Die Hälfte der verdammten Rechenzentren ist mittlerweile offline.
Queen Kong brauchte ziemlich lange, bevor sie schrieb. Wie er es sich angewöhnt hatte, wenn ihre Latenz mal wieder allzu lange wurde, lud der die Google-Homepage neu. Und tatsächlich war sie down.
> Sario, hast Du irgendwas zu futtern?
> Ein paar mehr verpasste Mahlzeiten werden Euch nicht schaden, Eure Exzellenz.
Van war zurück auf Mayor McCheese gewechselt, aber er war im selben Kanal.
„Was für ein Sackgesicht. Du siehst aber immer noch echt scharf aus, Kumpel.“
Van dagegen sah nicht so gut aus. Man konnte meinen, dass ihn schon eine kräftige Brise umwerfen konnte, und er hörte sich verschleimt und schwach an.
> hey Kong, alles in Ordnung?
> alles gut, musste nur jemandem in den Arsch treten
„Wie ist der Traffic, Van?“
„25 % weniger als heute Morgen“, sagte der. Ein paar Netzknoten routeten ihre Verbindungen durch ihr Reich. Wahrscheinlich waren die meisten davon Privat- oder Firmenkunden an Orten, wo es immer noch Strom gab und wo die Chefs der Telefongesellschaften noch lebten.
Immer mal wieder klinkte sich Felix in die Verbindungen ein, um zu sehen, ob er jemanden finden konnte, der Nachrichten aus der weiten Welt hatte. Praktisch alles davon war allerdings automatisierter Traffic: Netzwerk-Backups, Status-Updates. Spam. Jede Menge Spam.
> Spam ist immer noch allgegenwärtig, weil die Dienste, die Spam verhindern, schneller absterben als die, die Spam generieren. Das gesamte Wurmbekämpfungszeugs ist an ein paar Orten zentralisiert. Hätten die DAUs doch wenigstens den Verstand gehabt, ihre Heim-PCs abzuschalten, bevor sie tot umfallen oder abhauen
> Wenn das in dem Tempo weitergeht, routen wir zum Abendessen nur noch Spam
Van räusperte sich, was schmerzhaft klang. „Was das angeht“, sagte er, „glaube ich, dass das sogar noch früher sein wird. Felix, ich denke nicht, dass irgendjemand es merken würde, wenn wir einfach hier die Biege machen.“
Felix sah ihn an, mit seiner mortadellafarbenen Haut und den langen, entzündeten Krusten darauf. Seine Finger zitterten.
“Trinkst Du genug Wasser?”
Van nickte. „Den ganzen beschissenen Tag über, alle zehn Sekunden. Alles, damit sich mein Bauch voll anfühlt.“ Er zeigte auf die Pepsi Max-Flasche neben sich, die er mit Wasser aufgefüllte hatte.
„Lass uns ein Meeting machen“, meinte er.
#
Am D-Day waren sie dreiundvierzig gewesen. Jetzt waren sie fünfzehn. Sechs hatten auf die Einberufung eines Meetings schlicht damit reagiert, wegzugehen. Ohne dass man es hätte sagen müssen, wussten alle, worum es bei dem Meeting gehen sollte.
„Das war’s also, Ihr lasst alles einfach zusammenbrechen?“ Sario war der Einzige, der noch genug Energie übrighatte, um wirklich wütend zu werden. Er würde wohl noch wütend in die Grube fahren. Die Venen an seinem Hals und seiner Stirn standen wütend hervor. Seine Fäuste zitterten wütend. Sämtliche anderen Geeks machten dicht, als sie ihn so sahen, schauten während der Diskussion nur ausnahmsweise mal auf – und das alle gleichzeitig -, und kümmerten sich weder um die Chat-Logs noch um irgendwelche angehängte Service-Logs.
„Sario, du willst mich verarschen“, war Felix verwundert. „Du wolltest doch den gottverdammten Stecker ziehen!“
„Ich wollte, dass es sauber vonstattengeht“, schrie er. „Ich wollte nicht, dass es ausblutet und dann ewig keuchend und kotzend vor sich hin krepiert. Ich wollte, dass es ein bewusster Akt der weltweiten Gemeinde seiner Hüter ist. Ich wollte, dass es ein positiver Akt durch menschliche Hände ist. Nicht Entropie, schlechter Code und Würmer, die es abwürgen. Aber das ist genau das, was jetzt da draußen passiert ist.
Die Cafeteria im obersten Stock hatte Fenster rundum, gehärtet und leicht gebogen, und wie es sich eingebürgert hatte, waren sämtliche Vorhänge zugezogen. Jetzt rannte Sario durch den Raum und riss die Vorhänge auf. Wo zum Teufel hat er die Energie her, um zu rennen? fragte sich Felix. Er hatte kaum die Treppen zum Meeting heraufgehen können.
Grelles Tageslicht flutete herein. Es war ein schöner, sonniger Tag draußen, und sie hatten einen freien Blick auf die gesamte Skyline von Toronto. Aber egal, wo man hinsah, stiegen Rauchfahnen auf. Aus dem TD Tower, einem gigantischen, schwarzen, modernistischen Quader aus Glas, schlugen Flammen in den Himmel. „Es fällt alles auseinander, genau wie der Rest der Welt.“
„Hört zu, hört zu. Wenn wir das Netz langsam eingehen lassen, werden Teile davon monatelang online bleiben. Vielleicht Jahre. Und was wird drauf laufen? Malware. Würmer. Spam. Systemprozesse. Zonentransfers. Das, was wir nutzen, fällt Stück für Stück auseinander und braucht ständige Wartung. Alles, was wir aufgeben, wird nicht mehr benutzt und bleibt ewig online. Wir hinterlassen das Netz wie eine Sandgrube mit Industriemüll. Das wird unser verdammtes Vermächtnis – das, was von jedem Tastenanschlag bleibt, den ihr und ich und irgendwer irgendwo jemals getippt hat. Kapiert Ihr das? Wir überlassen es einem langsamen Tod, wie einen verwundeten Hund, anstatt ihm ganz einfach einen sauberen Kopfschuss zu verpassen.“
Van kratzte seine Wangen, aber dann sah Felix, dass er Tränen wegwischte.
„Sario, Du hast nicht Unrecht, aber du hast auch nicht Recht“, begann er. „Es online und vor sich hin hinken zu lassen ist in Ordnung. Wir werden alle für eine lange Zeit hinken, und vielleicht wird es irgendjemandem ein bisschen nützen. Falls nur ein Paket von einem Nutzer zu einem anderen Nutzer geroutet wird, irgendwo auf der Welt, dann tut es, wofür es gemacht wurde.“
„Wenn du es sauber töten willst, dann kannst Du das tun“, erklärte Felix. „Ich bin der Premierminister und sage das als solcher. Ich gebe dir root. Euch allen.” Er drehte sich zum Whiteboard, auf das die Mitarbeiter der Cafeteria immer die Tagesangebote geschrieben hatten. Jetzt war es mit den Überresten erhitzter technischer Debatten übersät, die die Sysadmins seit dem bewussten Tag geführt hatten.
Er wischte sich mit dem Ärmel einen Platz frei und begann, lange komplizierte alphanumerische Passwörter aufzuschreiben, zwischen die Punkte eingesprenkelt waren. Felix hatte eine Gabe dafür, sich solche Passwörter zu merken. Er bezweifelte, dass sie ihm jemals wieder etwas nützen würde.
#
> Wir gehen, Kong. Sprit ist sowieso bald alle
> Na ja, dann ist das wohl OK. Es war mir eine Ehre, Herr Premierminister
> sicher, dass du klar kommst?
> ich habe einen jungen Sysadmin dazu abkommandiert, mich um meine weiblichen Bedürfnisse zu kümmern, und wir haben noch mehr Essen gefunden, das ein paar Wochen reichen wird, nachdem wir nur noch fünfzehn Admins sind – ich bin im Schweinehimmel, Kumpel
> Du bist unglaublich, Queen Kong, echt. Spiel aber nicht die Heldin. Wenn du gehen musst, geh. Irgendwas muss da draußen noch sein
> pass auf dich auf, Felix, wirklich – übrigens, habe ich dir gesagt, dass in Rumänien die Anfragen zunehmen? Vielleicht kommen die wieder auf die Beine
> wirklich?
> ja, wirklich. Wir sind echt schwer zu killen, wie miese Kakerlaken
Ihre Verbindung brach ab. Er sprang zum Firefox und lud Google, und es war down. Er klickte wieder und wieder auf neu laden, aber nichts tat sich. Er schloss seine Augen und hörte zu, wie Van seine Beine kratzte, dann hörte er, wie Van etwas tippte.
„Sie sind wieder online”, sagte er.
Felix atmete tief aus. Er schickte die Nachricht an die Newsgroup, und brauchte fünf Anläufe bis er schließlich schrieb: „Passt auf den Laden auf, OK? Wir kommen wieder, irgendwann.“
Alle außer Sario wollten gehen. Sario weigerte sich. Er kam aber herunter, um sie zu verabschieden.
Die Sysadmins versammelten sich in der Lobby und Felix ließ die Sicherheitstür hochfahren, worauf Licht hereinflutete.
Sario streckte seine Hand aus.
„Viel Glück”, sagte er.
“Dir auch”, erwiderte Felix. Sario hatte einen festen Griff, fester als man es ihm zugestehen würde. „Vielleicht hattest du Recht“, meinte er.
„Vielleicht“, meinte Sario.
„Wirst du den Stecker ziehen?“
Sario sah zu der abgehängten Decke hinauf und schien durch die Stockwerke aus Stahlbeton die summenden Racks über ihnen anzublicken. „Wer weiß?”, sagte er schließlich.
Van kratzte sich und ein Schauer weißer Flocken tanzte im Sonnenlicht.
„Lass uns eine Apotheke für dich suchen“, wandte sich Felix an ihn. Er ging zur Tür und die anderen Sysadmins folgten ihm.
Sie warteten, bis sich die Innentüren hinter ihnen geschlossen hatten, dann öffnete Felix die Außentüren. Die Luft roch nach gemähtem Gras, nach den ersten Regentropfen, nach dem See und dem Himmel, wie die Wildnis und die Welt, ein alter Freund, von dem man ewig nichts gehört hatte.
„Mach’s gut, Felix”, verabschiedeten sich die anderen Sysadmins. Sie zogen von dannen, während er wie gelähmt oben auf der kurzen Betontreppe stehen blieb. Das Licht schmerzte in seinen Augen und ließ sie tränen.
„Ich glaube, in der King Street gibt es einen Shoppers Drug Mart“, sagte er zu Van. „Wir werfen die Scheibe ein und holen dir Cortison, in Ordnung?“
„Du bist der Premierminister“, entgegnete Van. „Nach dir.“
#
Auf dem fünfzehnminütigen Marsch sahen sie keine Seele. Von den Vögeln und entferntem Ächzen oder dem Klang des Windes in den Stromleitungen über ihnen abgesehen, war nicht ein einziges Geräusch zu hören. Es war, als wanderten sie über die Mondoberfläche.
“Ich wette, sie haben Schokoriegel beim Shoppers“, meinte Van.
Felix Magen machte einen Satz. Essen. „Wow”, antwortete er um einen Mund voller Speichel herum.
Sie gingen an einem kleinen Kombi vorbei, und auf dem Vordersitz befand sich der ausgetrocknete Körper einer Frau, die den ausgetrockneten Körper ihres Babys hielt, worauf sein Mund sich mit saurer Galle füllte, obwohl der Geruch nur schwach durch die hochgekurbelten Fenster drang.
Er hatte seit Tagen nicht an Kelly oder 2.0 gedacht. Er fiel auf die Knie und würgte wieder. Hier draußen, in der realen Welt, war seine Familie tot. Alle waren tot. Er wollte sich einfach auf den Bordstein legen und ebenfalls auf den Tod warten.
Vans raue Hände griffen unter seine Achseln und zogen ihn schwächlich davon. „Jetzt nicht“, sagte er. „Sobald wir sicher irgendwo drinnen sind und genug gegessen haben, kannst Du das machen. Aber nicht vorher. Kapierst Du das, Felix? Verdammt nochmal nicht jetzt.“
Das Fluchen drang zu ihm durch. Er stand auf. Seine Knie zitterten.
Nur noch einen Block“, sagte Van, legte Felix‘ Arm um seine Schultern und führte ihn weiter.
„Danke, Van. Tut mir leid.“
„Schon OK“, erwiderte Van. „Du brauchst eine Dusche, dringend. Nichts für ungut.“
„Hast ja Recht.“
Der Shoppers hatte rundum Sicherheitsgitter aus Metall, aber die waren an der Vorderfront von den Fenstern abgerissen worden, die jemand ganz einfach eingeschlagen hatte. Felix und Van quetschten sich durch die Lücke und traten in den schummrigen Drogeriemarkt. Ein paar der Vitrinen waren umgeworfen, aber davon abgesehen sah alles normal aus. An den Kassen machte Felix die Regale mit Schokoriegeln zur gleichen Zeit aus wie Van. Beide stürzten hinüber, griffen sich eine Handvoll und fingen gierig an zu schlingen.
„Ihr zwei fresst wie Schweine.“
Der Klang der weiblichen Stimme ließ beide herumwirbeln. Sie hielt eine Feuerwehraxt empor, die mindestens so groß war wie sie selbst. Sie trug einen Laborkittel und bequeme Schuhe.
„Ihr nehmt euch, was ihr braucht, und dann verschwindet ihr, OK? Es hat keinen Zweck, irgendwelchen Ärger zu machen.“ Ihr Kinn war spitz und ihre Augen scharf. Sie sah aus wie irgendwo in den Vierzigern. Sie sah Kelly überhaupt nicht ähnlich, was gut war, denn Felix fühlte den Impuls, einfach zu ihr herüber zu rennen und sie zu umarmen. Es hatte noch jemand überlebt!
„Bist Du Ärztin?“ fragte Felix sie. Unter dem Kittel trug sie OP-Kleidung, wie er bemerkte.
„Haut ihr jetzt ab?“ Sie schwang die Axt.
Felix hob seine Hände. „Echt jetzt, bist Du eine Ärztin? Eine Apothekerin?“
„Ich war mal Krankenschwester, aber das ist zehn Jahre her. Ich bin hauptsächlich Web-Designerin.“
„Du verarscht mich“, glotzte Felix.
„Hast Du noch nie ein Mädchen getroffen, das Ahnung von Computern hat?“
„Ehrlich gesagt, leitet eine Freundin von mir das Rechenzentrum von Google, also ein Mädchen. Eine Frau, meine ich.”
„Jetzt verarscht du mich,” meinte sie wiederum. „Eine Frau hat das Rechenzentrum von Google geleitet?“
„Leitet,“ entgegnete Felix. “Es ist immer noch online.“
„Das glaubst du doch selbst nicht,“ glotzte jetzt sie und senkte die Axt ein Stück.
„Doch, tue ich. Hast du irgendwo Cortisoncreme? Ich kann dir die Geschichte erzählen. Ich heiße Felix und das da ist Van, der sämtliche Antihistaminika brauchen kann, die du übrighast.“
„Die ich übrighabe? Felix, alter Kumpel, ich habe hier genügend Dope für die nächsten hundert Jahre. Das Zeug ist längst abgelaufen, bevor es ausgeht. Aber du willst mir erzählen, dass das Netz immer noch läuft?“
„Läuft immer noch“, entgegnete er knapp. „Irgendwie. Das ist das, was wir die ganze Woche über getrieben haben. Es online gehalten. Allerdings kann es sein, dass es das Netz nicht mehr allzu lange macht.“
„Nein“, meinte sie. “Hätte ich auch nicht erwartet.“ Sie stellte die Axt ab. „Habt ihr irgendwas zum Tauschen? Ich brauche nicht viel, aber ich habe versucht, durch Tauschen mit den Nachbarn irgendwie meine Moral auf Trab zu halten. Ist, als würde man Civilization spielen.“
„Du hast Nachbarn?”
„Mindestens zehn”, war die Antwort. „Die Leute im Restaurant gegenüber machen eine ziemlich gute Suppe, auch wenn das meiste Gemüse aus der Dose kommt. Allerdings haben die jetzt meine gesamte Brennpaste abgesaugt.“
„Du hast Nachbarn und du tauschst mit ihnen?“
„Na ja, eher pro forma. Es wäre ziemlich einsam ohne sie. Ich habe mich um so viele Wehwehchen gekümmert, wie ich konnte. Knochen richten, gebrochenes Handgelenk und so. Hört mal, wollt ihr Wonder Bread mit Erdnussbutter? Ich habe eine ganze Tonne davon. Dein Freund sieht aus, als könnte er einen Happen vertragen.“
„Ja, bitte,“ warf Van ein. „Wir haben nichts zum Tauschen, aber wir sind beide unheilbare Workaholics, die gerne irgendein Handwerk lernen würden. Brauchst du vielleicht ein paar Assistenten?“
„Nicht wirklich.“ Sie griff den Axtstiel und drehte sie auf der Spitze herum. „Aber ich hätte nichts gegen etwas Gesellschaft.“
Sie aßen die Brote und dann etwas Suppe. Die Leute aus dem Restaurant brachten sie herüber und stellten sich vor, obwohl Felix bemerkte, wie sich ihre Nasen kräuselten und sie sich versicherten, dass im Hinterzimmer fließendes Wasser zu finden war. Van ging zuerst hinein und nahm ein Schwammbad, Felix ging als nächster.
„Keiner von uns hat einen Schimmer, was wir tun sollen“, sagte die Frau. Ihr Name war Rosa, und sie hatte eine Flasche Wein und ein paar Plastikbecher für sie im Supermarktbereich aufgetrieben. „Ich dachte, es würden Hubschrauber kommen, oder Panzer, vielleicht sogar Plünderer, aber es ist einfach still.“
„Ihr scheint euch auch ziemlich still verhalten zu haben“, meinte Felix.
„Wir wollten keine falsche Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“
„Habt ihr mal darüber nachgedacht, dass da draußen eine Menge Leute sind, die genau das Gleiche tun? Vielleicht fällt uns ein, was wir tun sollten, wenn wir alle zusammentrommeln.“
„Oder sie schneiden uns die Kehlen durch“, bemerkte sie trocken.
Van nickte. “Da hat sie durchaus Recht.“
Felix war aufgesprungen. „Niemals, so dürfen wir nicht denken. Meine Dame, wir sind hier an einer kritischen Weggabelung. Wir können durch Nachlässigkeit untergehen, in unseren Schlupfwinkeln versauern, oder wir können versuchen, etwas Besseres aufzubauen.“
„Besser?“, schnaubte sie verächtlich.
„OK, nicht besser. Aber trotzdem irgendwas. Etwas Neues aufbauen ist besser, als es einfach vergammeln zu lassen. Gott, was willst du noch machen, nachdem du sämtliche Magazine gelesen und alle Kartoffelchips hier aufgemampft hast?“
Rosa schüttelte den Kopf. “Schönes Gerede“, sagte sie. „Aber was zum Teufel sollen wir denn überhaupt machen?“
„Irgendwas,“ erwiderte Felix. „Wir werden schon etwas machen. Irgendwas ist besser als nichts. Wir nehmen dieses Fleckchen der Welt, wo die Leute miteinander reden, und machen es größer. Wir trommeln alle zusammen, die wir finden können, und kümmern uns um sie, und die die kümmern sich um uns. Wahrscheinlich vermasseln wir es. Wahrscheinlich versagen wir. Aber ich möchte lieber versagen als aufgeben.“
Van lachte. „Felix, du bist noch bekloppter als Sario, weißt du das?“
„Wir ziehen gleich morgen los und zerren ihn hier herüber. Er wird ganz einfach dabei sein. Alle werden dabei sein. Scheiß‘ auf den Weltuntergang. Die Welt geht nicht unter. Die Menschheit ist ganz einfach nichts, was untergeht.“
Rosa schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal lächelte sie ein wenig. „Und was bist du dann? Der Papst-Kaiser der Welt?“
„Er bevorzugt ‚Premierminister‘“, flüsterte Van theatralisch. Die Antihistaminika hatten auf seiner Haut Wunder bewirkt und sie hatte sich von wütendem Rot auf ein sanftes Pink beruhigt.
„Möchtest du Gesundheitsministerin sein, Rosa?“ fragte er.
„Typisch Jungs,“ schnaubte Rosa. „Immer nur spielen. Wie wäre es damit: Ich helfe aus, wo ich kann, solange du mich niemals bittest, dich Premierminister zu nennen, und du mich niemals Gesundheitsministerin nennst.“
„Ist gebongt“, grinste Felix.
Van füllte ihre Gläser wieder auf und stellte die Weinflasche auf den Kopf, als wollte er sie auswringen.
Sie hoben ihre Gläser. „Auf die Welt“, meinte Felix. „Auf die Menschheit.“ Er dachte angestrengt nach. „Auf den Wiederaufbau.“
„Auf was auch immer“, sagte Van.
„Auf was auch immer“, stimmte Felix zu. „Auf alles.“
„Auf alles“, antwortet ihnen Rosa.
Sie tranken. Am nächsten Tag begannen sie mit dem Wiederaufbau. Und Monate später fingen sie wieder ganz von vorne an, als Streitigkeiten die zerbrechliche kleine Gruppe auseinandertrieben, die sie zusammengetrommelt hatten. Und ein Jahr später fingen sie nochmal ganz von vorne an. Und fünf Jahre später übrigens auch wieder.
Felix grub Gräben und barg Dosen und begrub die Toten. Er pflanzte und erntete. Er reparierte ein paar Autos und lernte, wie man Biodiesel herstellt. Am Ende landete er in einem Rechenzentrum für eine kleine Regierung – kleine Regierungen kamen und gingen, aber diese war klug genug, Aufzeichnungen zu führen, und brauchte jemanden, der das alles am Laufen hielt, und Van ging mit ihm.
Sie verbrachten eine Menge Zeit in Chatrooms, und manchmal trafen sie dort zufällig alte Freunde aus der seltsamen Zeit, in der sie die Verteilte Republik des Cyberspace geleitet hatten, Geeks, die darauf bestanden, ihn PM zu nennen, obwohl ihn in der realen Welt keiner mehr so nannte.
Es war kein gutes Leben, zumindest meistens. Felix‘ Wunden heilten nie, genauso wenig wie die der meisten anderen Leute. Es gab chronische Nachwehen und solche, die einen plötzlich überkamen. Tragödie über Tragödie.
Aber Felix liebte sein Rechenzentrum. Dort, in den summenden Schränken, hatte er nie das Gefühl, dass er die ersten Tage einer besseren Nation erlebte, aber er hatte auch nie das Gefühl, dass es die letzten waren.
> geh ins bett, felix
> bald, kong, bald — habe dieses backup fast am laufen
> du bist ein junkie, alter.
> musst du gerade sagen
Er lud die Google-Homepage neu. Queen Kong hatte sie mittlerweile seit ein paar Jahren online gehalten. Die Os in Google änderten sich ständig, immer dann, wenn ihr danach war. Heute waren sie kleine Cartoon-Globen, der eine lächelnd, der andere stirnrunzelnd.
Er sah sie lange an und schaltete dann wieder in das Terminalfenster, um nach seinem Backup zu sehen. Ausnahmsweise lief es mal sauber durch. Die Akten der kleinen Regierung waren in Sicherheit.
> ok nacht dann
> pass auf dich auf
Van winkte ihm zu, als er zur Tür herüber ächzte und seinen Rücken mit einer langen Reihe von Plopps streckte.
„Schlaf gut, Boss“, sagte er.
„Bleib nicht wieder die ganze Nacht hier“, erwiderte Felix. „Du brauchst auch mal Schlaf.“
„Du bis zu gut zu uns Fußvolk“, gab Van zurück und widmete sich wieder dem Tippen.
Felix ging zur Tür und wanderte hinaus in die Nacht. Hinter ihm summte der Biodiesel-Generator und verbreitete seine beißenden Dämpfe. Der Erntemond, den er so liebte, stand am Himmel. Morgen würde er zurückkommen und den nächsten Computer reparieren, im ewigen Kampf gegen die Entropie. Und warum auch nicht?
Das war, was er machte. Er war ein Sysadmin.
—
Creative Commons License Deed
Attribution-NonCommercial-ShareAlike 2.5
You are free:
* to Share—to copy, distribute, display, and perform the work
* to Remix—to make derivative works
Under the following conditions:
* Attribution. You must attribute the work in the manner specified by the author or licensor.
* Noncommercial. You may not use this work for commercial purposes.
* Share Alike. If you alter, transform, or build upon this work, you may distribute the resulting work only under a license identical to this one.
* For any reuse or distribution, you must make clear to others the license terms of this work.
* Any of these conditions can be waived if you get permission from the copyright holder.
Disclaimer: Your fair use and other rights are in no way affected by the above.
This is a human-readable summary of the Legal Code (the full license):
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/legalcode
—
Machine-readable metadata (humans, ignore this):
<!—/Creative Commons License—><!—<rdf:RDF xmlns="http://web.resource.org/cc/" xmlns:dc="http://purl.org/dc/elements/1.1/" xmlns:rdf="http://www.w3.org/1999/02/22-rdf-syntax-ns#" xmlns:rdfs="http://www.w3.org/2000/01/rdf-schema#">
<Work rdf:about="">
<license rdf:resource="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/" />
<dc:type rdf:resource="http://purl.org/dc/dcmitype/Text" />
</Work>
<License rdf:about="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/"><permits rdf:resource="http://web.resource.org/cc/Reproduction"/><permits rdf:resource="http://web.resource.org/cc/Distribution"/><requires rdf:resource="http://web.resource.org/cc/Notice"/><requires rdf:resource="http://web.resource.org/cc/Attribution"/><prohibits rdf:resource="http://web.resource.org/cc/CommercialUse"/><permits rdf:resource="http://web.resource.org/cc/DerivativeWorks"/><requires rdf:resource="http://web.resource.org/cc/ShareAlike"/></License></rdf:RDF>—>