Schnipsel
Engl. Originaltitel: TRUNCAT
© 2000, Cory Doctorow
First published in BAKKAnthology, 2002
Website: http://craphound.com/000121.html
Übersetzung © 2005, Magnus Wurzer Some Rights Reserved
This translation is licensed under a Creative Commons by-nc-sa license (see http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.5/) and a Creative Commons Developing Nations license (see http://creativecommons.org/licenses/devnations/2.0/).

„Adrian, du hast eine Million Freunde“, sagte seine Mutter. „Das ist statistisch bewiesen. Es tut mir leid, wenn du dich isoliert fühlst, aber keiner von uns zieht nach Bangalore, nur damit du dich mit diesem Burschen anfreunden kannst.“

Adrian kämpfte mit seiner Beherrschung. Seine Mutter war vor dem Frühstück immer reizbar, und ein ausgewachsener Streit konnte diese Stimmung auf den ganzen Tag ausdehnen. Das brauchte niemand. „Mam“, er wand seinen Körper durch den schmalen Dreipersonensarg, den er mit seinen Eltern teilte, um ihr in die Augen schauen zu können, „ich verlange nicht von euch, nach Indien zu ziehen. Ich erkläre meine Arbeit, das ist alles.“

Seine Mutter schnaubte. „Die Letzte Generation auf Erden, wirklich! Adrian, wenn ich dein Ausbilder wäre, ich würde dich garantiert nicht auf der Basis von so etwas promovieren lassen. Es ist mir völlig egal, ob dieser Junge in Indien die ITT-Leute von der Stichhaltigkeit seiner kleinen trendigen These überzeugt hat. Die Universität Toronto stellt höhere Ansprüche.“

Es war ein Fehler gewesen, überhaupt mit seiner Mutter darüber zu sprechen. Mit 180 war sie kaum in der Lage, den Druck zu verstehen, dem er und seine unbedeutend winzige Generation ausgesetzt waren. Er sollte die Arbeit einfach geschrieben und seinem Lehrer ins öffentliche Verzeichnis gestellt haben. Es war nur, dass er in der Nacht die coolste Idee überhaupt gehabt und sie seiner Mutter reflexartig zugespielt hatte: Mit Erlangung der Reife seiner Generation wäre der ganze Planet post-human und eine neue, absolut neue Ära würde beginnen. Die Bitchun-Gesellschaft, Phase II.

„Okay, Mam. Okay. Ich gehe frühstücken – willst du mitkommen?“

„Nein“, sagte sie und rollte sich wieder auf die Seite. „Ich warte auf deinen Vater.“

Er blickte auf das schnarchende Massiv seines Vaters, der trotz des hitzigen Wortwechsels noch immer weggetreten, hinter ihr schnarchte. Adrian griff nach dem Deckengeländer und hievte sich zentimeterweise aus dem Sarg in den öffentlichen Korridor.

Sein Bauch knurrte, aber die Schlange, die auf die Ausspeisung wartete, war immer noch lang, dicht besetzt mit Frühstückenden aus dem Bau, den er sein Zuhause nannte.

Widerstrebend entschloss er sich, das Frühstück zu überspringen und sein Refugium aufzusuchen. Es war beinahe Backup-Zeit und er musste einiges abladen.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, Adrians privater Punkt war alles andere als privat und zudem verdammt schwierig zu erreichen. Seine Netzkumpel verglichen gerne Aufzeichnungen über ihre Verstecke und Adrian war sich sicher, dass er das beschissenste und unpraktischste Loch von allen hatte.

Zuerst begab sich Adrian in die U-Bahn und entschied sich wegen der schnelleren Ladezeit für die Tiefkühl-Freifahrt. Er betrat die glänzende Kryokammer der Downsview Station, beschwor ein HUD (Anm.: Heads Up Display, in diesem Fall neuronal verdrahtet) in seinem Gesichtsfeld herauf und sendete die Freigabe zum Einfrieren.

Im nächsten Augenblick taute er am Bahnsteig der Union Station auf, eingepfercht zwischen einigen tausend Pendlern, die sich für die gleiche Vorgangsweise entschieden hatten. In Indien, wo diese Art des Komfort-Gefrierens noch verbreiteter war, hatte Mohan erkannt, dass der Grund, warum ihre Generation für ihr Alter so klein war, darin lag, dass sie viel Zeit im Kälteschlaf verbrachten und so im Transit-Raum gespart wurde. Adrian mochte an die 18 sein, davon hatte er jedoch, schätzte er, mindestens ein Jahr eingefroren verbracht.

Adrian schlurfte durch die Menge und den Treppenaufgang zur Dauer-Temperatur-Oberfläche hinauf, dabei zog er den Routing-Sticker ab, den die Kryonik ihm auf die Schulter geklebt hatte. Sein Bauch knurrte noch immer, also warf er sich den Sticker ein und kaute ihn solange, bis er sich aufgelöst hatte, den Geschmack nach Steak und den Kalorienschub genießend. Der Erfinder der essbaren Routing-Etiketten hatte Whuffie im Überfluss: Adrians Mam kannte jemanden, der jemanden kannte, der ihn kannte und gesagt hatte, der Typ hätte einen ganzen Unterwasser-Palast, in dem er sich austoben würde.

Ein Wirrwarr von Schluckgeräuschen erfüllte seine Ohren, hervorgerufen durch die Menge, die sich subvokal mit entfernten Freunden unterhielt. Adrian aalte sich im warmen, simulierten Sonnenlicht, das vom Kuppeldach über ihm ausstrahlte. Er würde die Kuppel innerhalb von Minuten verlassen haben, und es beschlich ihn der Verdacht, dass ihm allzu bald hübsch kalt sein würde. Er betastete seinen kleinen Rucksack, um sicherzugehen, dass er seinen kuttenartigen Überwurf mithatte.

Er kämpfte sich den Weg durch das Gewühl die Bay Street hinunter zu den Fährendocks. Abwesend blätterte er durch sein öffentliches Verzeichnis und sah das Zeug durch, das er in der Nacht gesammelt hatte. Es hatte natürlich alles zu verschwinden, aber einiges wollte er vorher noch abspielen. Das meiste davon war freilich Mist. Das durchschnittliche Backup eines durchschnittlichen Bürgers der Bitchun-Gesellschaft war kaum interessant genug, ein Blitzbacken zu rechtfertigen. Es gab aber Kostbarkeiten darunter, oh ja.

Sein privater Platz hing verlockend vor ihm, gleich außerhalb der Kuppel. Der Strom der Körper teilte sich, zu den Docks hin beschleunigte er seinen Schritt, betrat die Fähre mit einem Nicken zum Lenker in seiner Kabine und drängte in einen der wenigen Sitze am Bug. Während die Fähre in Richtung Luftschleuse bei Toronto Island ablegte, zog er seine Kutte über.

Es war noch kälter als letztes Mal. Der Anzeiger auf seinem Überwurf zeigte –48°C mit Windfrost. Seine Nase und seine Zehen wurden schlagartig taub und er steckte sie unter die wärmende Bekleidung.

Sein ungestörter Platz lag nur einen Sprung weit vom westlichsten Strand bei Hanslons Point auf Toronto Island, eine vergessene Smart-Boje, borstig von selbstreparierender Elektronik umwuchert, wie ein fraktales Stachelschwein. Sein letzter Ausflug hierher lag schon ein paar Wochen zurück und in der Zwischenzeit hatte die Boje weitere Instrumente angesetzt, die den schmalen Eingang in ihre Konsolenkapsel versperrten. Leise fluchend wickelte Adrian die Kutte um seine Hände, brach die Antennen ab und warf sie in den böig aufschäumenden Ontario-See. Dann kletterte er hinein und hielt den Atem an.

Wellen brachen sich krachend am Hanslons Point. Das ferne Summen der Luftschleuse. Ein Flugzeug brummte hoch über seinen Kopf hinweg. Stille, auf eine Art. Ein halbgegessenes Sandwich verschimmelte in der Nähe seines rechten Fußes. Angewidert beförderte er es nach draußen, im Stillen verfluchte er die Instandhaltungscrews, die sich regelmäßig auf den Weg zu seiner Boje machten, um den ihnen unerklärlichen Schaden auszutüfteln, den er an ihr angerichtet hatte.

Aber die Stille, ah. Seine Mutter verstand sein Verlangen nach Stille überhaupt nicht. Sie verspürte Behaglichkeit angesichts des furzenden, atmenden, sich dahinschiebenden Schwarms von Menschheit, der sie zu jeder Zeit umklammerte. Sie hatte einige Jahrzehnte damit verbracht, Zinn-armiert und mit Eisenlunge in der immensen Leere des Raumes lustzuwandeln. Sie hatte ihre Portion Ruhe gehabt, wirklich zur Genüge. Adrian hingegen, mit 18 (oder 17) Jahren in den wimmelnden Horden der Bitchun-Gesellschaft, konnte nicht genug davon bekommen.

Sein öffentliches Verzeichnis platzte vor Backups der letzten Ladung, die seine Altersgenossen rund um den Globus ihm zugespielt hatten, höchst illegal. Die Backups waren veraltete Bewusstseinsinhalte, kreiert von den unterschiedlichsten Mitgliedern der Bitchun-Gesellschaft. Es handelte sich um eine wöchentliche Absicherung gegen physischen Schaden.

Theoretisch wurde, wenn jemand ein neues Backup erstellte, das alte gelöscht und die Datei an einen nicht­existenten Knoten im verteilten Netzwerk verschoben, welches aus der gemeinsamen Rechenkraft der implantierten Computer gebildet wurde, die von jedem Mitglied der Bitchun-Gesellschaft getragen wurden. Theoretisch.

Adrian blätterte durch das Verzeichnis. Eines dieser Bootlegs in ein Backup-Terminal mitzunehmen, würde sofortige Entdeckung bedeuten. Selbst es jemandem anderen zu senden, war riskant und barg die Gefahr, aufgespürt zu werden. Mohan hatte ein schnuckeliges kleines Tool geschrieben, das die Übertragung über den Handshake- und Routing-Kanal ermöglichte, einem Kurzwellenband, das unverlässliche – und daher nicht zu ortende – Informationen übertrug, die in den Haupt-Datenkanälen mitgehört worden wären. Die Million hatte das Tool rasch angenommen und sie benutzten es, um einander ihre Konterbande zu überspielen. Auf diese Weise kopierten sie die Bootlegs, bevor sie diese vor ihrem eigenen wöchentlichen Backup löschten.

Adrian stand bei der Million in gutem Whuffie. Nichts im Vergleich mit Mohan, freilich, aber noch immer gut – er speicherte verlässlich Bootlegs für die Million, sogar wenn das hieß, sein eigenes Backup zu verschieben, bis er einen sicheren Speicherplatz für all die ihm anvertrauten Materialien finden konnte. Es machte ihm nichts aus: Ein Spitzen-Whuffie Verwahrungsort zu sein, bedeutete, dass er jedermanns wertvollste Raubkopien zur Aufbewahrung bekam.

Wie dieses, das Backup eines Bitchun der dritten Generation, am Ende des XXI. Jahrhunderts geboren, weiblich (obwohl das nicht lang so blieb). Siebzig Jahre später war ihr/sein Backup ein prächtiger Wandteppich aus Erinnerungen. Spektakuläre Weltraumkämpfe, unglaubliche sexuelle Abenteuer, zwerchfellerschütternde Witze, exotische Geschmacksrichtungen und esoterisches Wissen, aufgesogen von brillanten Lehrern rund um den ganzen Planeten. Er hatte es jetzt schon zwei Wochen und blitzbackte es fast jeden Tag.

Zeit, dies wieder zu tun. Rasch gab er den Befehl dazu ein. Ein Zittern durchlief ihn, während dieses Bewusstsein, in eine Kugel aus Erinnerungen und Einsichten gerollt, ihm direkt in seinen Verstand gefeuert wurde. Es entfaltete sich über seinen eigenen Gedanken und Träumen, sodass er für einen Moment diese Person war, ihr/sein Selbst umhüllte Adrian mit einem endlosen Bombardement von Sinneseindrücken.

Es ebbte ab, der Adrenalinstoß verschwand in einem synaptischen Knistern, ließ ihn zitternd und ausgelaugt zurück. Er sackte gegen das spitze Interieur der Boje, während er ein HUD einblendete und einen Agenten auf die Suche nach einem anderen Mitglied der Million schickte, das Speicherplatz für eine Kopie übrig hatte.


Backup-Tage waren Blitzback-Tage. In der Boje blitzbackte Adrian dutzende Male. Er wechselte zwischen seinen durch die Zeit abgenutzten Lieblingen und den schmackhaftesten Happen, die die Million deponiert hatte. Er fraß sich voll mit den antiken Bewusstseinsinhalten der Unsterblichen der Bitchun-Gesellschaft, bis zur Übersättigung und zum Platzen voll, sein Kopf pochte gefährlich.

Jedes Mal gab er die Datei vorsichtig an das Netzwerk weiter und wartete ab, bis der stampfende und klirrende Handshaking-Kanal die Übertragung abgeschlossen hatte. Das Warten machte ihm nichts aus: es verschaffte ihm einen Moment, bis die synästhetischen Anstürme vergangen waren. Die Zeit wurde knapp, sein Bauch knurrte protestierend und entließ ketonische Rülpser, die den geschlossenen Raum mit Estergerüchen füllten.

Eins noch, nur noch eins, von Mohan diese Nacht persönlich zur sicheren Verwahrung hinterlassen. Mohan saß am Oberlauf des Flusses, der Quelle aller Bootlegs. Er war der theoretisch nichtexistente Knoten, an den das Backup-Netzwerk die abgelaufenen Dateien ablud. Wenn der einen Verwahrer identifizierte, musste es wohl gut sein. Adrian hatte es sich als Letztes aufgehoben, jetzt spielte er es ab und jagte es sich ins Gehirn.

Gott. Gott. Die Person war so alt, saurierhaft und langsam, fast 300, ein Original-Revoluzzer aus der Dämmerung der Bitchun-Gesellschaft. Damals bloß ein Kid, barrikadenstürmend, kirchenzerstörend, als er in einer selbstgemachten Polizeiuniform die erste Ad-hoc Polizeitruppe gründete. Dreist mit einer Ladung Gemüse in den Armen, für das er keinen Cent bezahlt hatte, aus einem Laden tretend, rief er unbeschwert über die Schulter: „Verrechnet mir’ s mit dem guten alten Whuffie, in Ordnung?“

Was für eine Zeit! Die Gesellschaft im Umbruch, zur Hälfte Bitchun. Die Religiösen scheuten sich vor dem Backup und starben ohne Hoffnung auf Wiederherstellung. Sie vertrauten ihre Seelen dem Himmel an statt einem beschleunigt gezogenen Klon, der ein Upload ihres Backups empfangen würde, wenn die Zeit gekommen wäre. Leute echt sterbend, in solchen Zahlen dahingerafft, dass ganze Industrien drumherum existierten: Totengräber und Bestattungsunternehmer in dunklen Anzügen! Menschen, die kostenlose Energie, unbegrenzte Nahrung, Unsterblichkeit ablehnten.

Die Bitchun-Gesellschaft hatte den längeren Atem. Sie starben einer nach dem anderen und die Revolutionäre waren froh, sie abtreten zu sehen. Jeder Einzelne bedeutete einen Abweichler weniger. Bis nur mehr die Reputationsökonomie – der allmächtige Whuffiepunkt – und ein Übermaß an allem, außer Platz, übrig blieb.

Adrian grinste mit offenem Mund, die harte Fröhlichkeit der Revoluzzer, als die letzten Verweigerer in den Boden gepflanzt, ihre Leichen einbalsamiert anstatt wiederverwertet wurden. Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte tickten vorüber, Lehren wurden gelehrt, vergessen, erneut gelernt. Liebhaber, fremde Welten, Erfindungen und Symphonien und großartige Kunstwerke und vor ihm, oh vor ihm, entfalteten sich die Jahrhunderte. Eine Ewigkeit der Wiedergeburt und des Neulernens, des ewig weiterlebenden Bewusstseins.

Und dann war es vorbei. Adrian schwitzte und grinste noch immer. Das triumphierende Hurra des Revolutionärs echote in seinem Verstand, die Welt war seine Auster.

„Oh, Mohan“, hauchte er bei sich. „Oh, das war wundervoll.“ Er durchsuchte das Netzwerk auf seinem HUD und hielt nach einem verlässlichen Mitglied der Million Ausschau, nach jemandem, bei dem er es abladen und nach dem eigenen Backup wiederbekommen konnte. Da ein Mädchen in Frankreich, mit einem weit offenen Verzeichnis. Er startete den Transfer, dann lehnte er sich zurück, um sich am erinnerten Frohlocken seines letzten Blitzbackens wohlig zu wärmen.

Sein Innenohr klingelte. Das HUD zeigte seine Mutter an. Verdammt.

„Hi, Mam“, sagte er.

„Adrian!“, sagte sie. „Wo warst du?“ Sie war in keiner guten Stimmung, soviel war klar.

„Uh“, erwiderte er. „In der U-Bahn. Ich werde versuchen, bei Mr. Bosco vorzusprechen.“ Bosco war der Zulassungsberater der Universität Toronto, dem er kürzlich in den Arsch gekrochen war, um ihn dazu zu bewegen, ihn zum Herbstsemester an die Uni zuzulassen. Es war nicht leicht: Das Angebot für niedere Semester wurde zugunsten der exklusiven Viel-Whuffie Einzelstudienangebote heruntergeschraubt. Die spärlich gesäten Studienanfänger der Million zu unterrichten, war alles andere als ein angesehener Auftritt.

„Bosco?“, sagte seine Mutter besänftigt. „Nun, das ist ... gut. Hör einmal, ich will nicht, dass du mit ihm über deine Idee für diese Aufnahmearbeit redest – niemand will davon hören, dass du und deine Freunde die letzte Generation von Menschen seid. Jede Generation glaubt, sie sei etwas Besonderes – es ist nur nicht so.“

„In Ordnung“, antwortete er. Er würde in nächster Zeit nicht mit Bosco sprechen, zumindest nicht, wenn er es vermeiden konnte.

„Dein Vater hat mit dir an diesem NP-Vollständigkeitsbe­weis gearbeitet. Präsentiere den stattdessen.“

„Sicher“, sagte er. Der Revolutionär echote noch immer wie fernes Gewehrfeuer in seinem Verstand.

Seine Mutter redete weiter und er hielt seine Antworten einsilbig, bis sie ihn in Ruhe ließ. Zurück in der Stille der Boje entfernte er rasch alle Raubkopien aus seinem öffentlichen Verzeichnis, zog seine Kutte eng um sich und kletterte widerstrebend nach draußen, zurück zur Insel, um dort auf die Fähre zu warten.


Adrians Backup verlief ohne Zwischenfälle, ein Augenblick vor einem Breitbandterminal, während sein Leben vor seinen Augen ablief, extrahiert und verteilt wurde an eine überreichliche Auswahl von Knoten im Netzwerk aus fünfzehn Milliarden Personen, das die Erde bedeckte.

Nachdem diese Huldigung der Bitchun-Gesellschaft verrichtet war, machte er sich auf zu den Straßen der Innenstadt und wartete, dass die Dateien zurücksickerten, die er ausgelagert und gelöscht hatte. Er wartete auf das Backup des Revolutionärs, auf eine weitere Kostprobe von Jubel und grandiosem Triumph. Er ging den ganzen Weg von der Union Station bis Bloor zu Fuß, eine gute Stunde inmitten des beengenden Drucks der Menge zur Mittagszeit und noch immer weigerte sich der Revolutionär, wieder aufzutauchen.

Verärgert mit der Zunge schnalzend tauchte er in einem Torbogen unter und suchte im Netz nach dem französischen Mädchen.

Ihr Verzeichnis war geleert! Im Zeitraum von wenigen Stunden hatte sie alle Dateien, die von Dritten bei ihr abgelegt worden waren, gelöscht!

Das war wirklich unentschuldbar. Der einzig mögliche mildernde Umstand wäre, wenn sie die Datei vor dem Löschen jemand anderem weitergegeben hätte. Er erzeugte einen Agenten und sandte ihn auf die Jagd nach der Datei durch das Netzwerk der Million. Dabei schwärmte er von den Knoten aus, die das französische Mädchen gewöhnlich verwendete.

Ein Anruf seiner Mutter klingelte wieder in seinem Innenohr und er stellte sie an den Anrufbeantworter weiter, aber das Läuten bereitete ihm Sorgen. Es war eine Woche bis zum letzten Termin des Zulassungskomittees an der Uni, und er würde es sich ewig vorwerfen, wenn er nicht hineinkam. Er schweifte in Gedanken zurück zu dem Revolutionär und zu dessen Teilnahme an der Übernahme des Soziologiefachbereichs durch Studenten in der Mitte des XXI. Jahrhunderts und der Ablösung von Besitz durch den Whuffie.

Das waren noch Zeiten! Wirkliche Kämpfe, echte Prinzipien, und die glückselige, gesegnete Bewegungsfreiheit. Das war es, was er brauchte. Oder, wenn er das schon nicht erreichen konnte, noch einen Versuch, das Bootleg blitzzubacken. Diese verdammte französische Tussi.

Sein Innenohr läutete erneut. Seine Mutter. Resigniert nahm er an.

„Adrian, wo bist du?“ Sie klang zumindest, als hätte sie bessere Laune.

„Ich bin bei Yonge & Bloor, Mam. Ich gehe spazieren und sehe zu, wo ich mir ein Mittagessen hole.“

„Was hat Mr. Bosco gesagt?“

Verflucht. „Er hat gesagt, er denkt darüber nach – er wird sich morgen bei mir mit Kommentaren melden.“

„Wirklich?“, sagte seine Mutter, ihre Stimme klang echt interessiert.

„Ja“, antwortete er. „Ich glaube, es hat ihm gefallen, die NP-vollständige Sache, meine ich. Das andere habe ich nicht erwähnt.“

„Eigenartig“, sagte sie und ihre Stimme war mit einemmal frostig. „Er hat deinen Besuch mit keinem Wort erwähnt, als ich gerade eben mit ihm sprach.“

Das Blut wich aus Adrians Gesicht. Das würde nicht so bald ausgestanden sein. „Uh“, machte er.

„Jetzt hör mir einmal zu, Bürschchen, und sag kein Wort. Deine Schwierigkeiten sind groß genug. Ich habe deinen Vater auf Konferenzschaltung und ich kann dir sagen, er sieht nicht sehr glücklich drein.

So, und jetzt sage ich dir, wie es weitergeht. Ich habe mit Bosco ein Treffen in einer Stunde vereinbart. Ich musste einige Gefälligkeiten einfordern, und du wirst pünktlich kommen. Dein Vater wird dort sein, und du wirst Bosco erzählen, wie aufgeregt du über diese Chance bist. Du wirst diesen Blödsinn, dem du nachjagst, nicht erwähnen. Du wirst ihm zeigen, wie gewissenhaft du in deinen Studien bist, zeig ihm, wie sehr die Universität von dir profitieren kann, und du wirst freundlich und gewandt auftreten. Hast du verstanden?“

„Ja“, sagte er. Herr, war sie aufgebracht.

„Eine Stunde“, sagte sie und legte auf.


Adrians Agent fand das Bootleg in dem Augenblick wieder, als er den Warteraum am Innis College erreichte. Die Französin hatte es weitergereicht, bevor sie es gelöscht hatte, einem Mädchen in Kansas. Er seufzte erleichtert auf und reihte sich für den Download ein, als sein Vater eintraf.

Adrians Vater sah aus wie 22, kaum älter als Adrian selbst, obwohl sein wirkliches Alter eher bei 122 lag. Solange Adrian lebte, hatte sich sein Vater äußerlich in einem Alter gehalten, das nur ein paar Jahre über dem Adrians zu liegen schien. Dabei folgte er einer Weisheit der Kinderaufzucht, die vor fünfzig Jahren im Trend lag, kurz bevor die Bitchun-Gesellschaft begann, Whuffie-Strafen an Leute auszuteilen, die selbstsüchtig genug der Überbevölkerung mit eigenem Nachwuchs Vorschub leisteten. Der Gedanke bestand darin, dass die Einsamkeit der Kinder dieser zahlenmäßig reduzierten Generation durch einen Vater in Spielkameradengröße gemindert werden würde.

Mit 22 war Adrians Vater untersetzt und mit Aknepickeln übersät, seine Speckstreifen traten hervor, eingeschnürt von der hellen Baumwoll-Djellaba, die er gewöhnlich in der Stadt trug.

Er nickte Adrian kurz zu, als er eintraf, seine Augen waren auf einen Punkt zwischen ihnen fixiert, wo sein allgegenwärtiges HUD nur für ihn leuchtete. Er setzte sich neben Adrian und klingelte ihn an.

Adrian rollte die Augen und antwortete subvokal. Warum sein Vater keine direkte Unterhaltung führen konnte, war ihm ein Rätsel. „Hi, Paps“, sagte er.

„Na, wie geht’s. Wie war dein Vormittag?“

„Ging so“, antwortete Adrian. „Wie geht’s Mam?“

Sein Vater kicherte subvokal, das Geräusch vermischte sich in seinem Innenohr eigenartig mit den Schluckgeräuschen aus seiner Kehle. „Sie ist ganz schön sauer. Mach dir deshalb keine Sorgen – wir legen eine Dressurnummer für Bosco hin, und alles ist vergessen.“

Bosco öffnete die Bürotür und begrüßte sie. Adrians Vater antwortete hörbar, seine Stimme war rau vom Nichtgebrauch.

In Boscos Leder-dominierter akademischer Höhle von Büro tratschten die beiden Erwachsenen langweilig und langwierig. Adrian kannte die Übung, wusste, dass es dauern konnte, bis irgendjemand etwas zu ihm zu sagen hätte. Mit einem heimlichen Blick auf seinen Vater und Bosco rief er das Backup des Revolutionärs auf und blitzbackte es.

Das Leben entfaltete sich vor seinem Geist, die frühen Tage der Bitchun-Gesellschaft, die körperlichen Kämpfe und die Ego-Kollisionen; das erste Erwachsenenalter als Nomade, der um den ganzen Globus zog; ein zweites und drittes Erwachsenenalter, ein viertes, das sich dem Entstehungsmoment des Backups annäherte, der Entfaltung der Ewigkeit und schnipp brach es ab.

Adrian riss die Augen auf. Verdammt. Abgesch …! Die Datei war während der Übertragung zwischen den Knoten abgeschnitten worden. Das halbe Leben des Revolutionärs verschwand in einer zufälligen Streuung von Bits und Äther.

Bosco schaute ihn erwartungsvoll an, mit schweren Lidern, gewelltem Haar, dicken Brauen und Falten in den Augenwinkeln, herrührend von langen Stunden des Denkens. Er hatte irgendetwas gesagt. Eilig durchlief er seine Kurzzeit-AV-Aufzeichnung am HUD, spielte zurück zu der Stelle, an der Bosco sagte, „Nun, Adrian, das ist eine gut vorbereitete Zulassungsarbeit. Kannst du mir sagen, was es ist, das dich an der Mathematik interessiert?“

Jetzt starrten ihn Bosco und Adrians Vater an, und Adrian täuschte Konzentration vor, als würde er sich ernsthaft Gedanken über die Antwort machen. In Wahrheit blätterte er durch seine Dateien nach der vorbereiteten Antwort, mit der seine Mutter ihn ausgestattet hatte. Aber es hatte keinen Sinn, das zuzugeben.

„Ich habe Mathematik immer geliebt“, rezitierte er, in der Erinnerung die richtige Formulierung suchend, „Ich komme nicht umhin, die mathematischen Beziehungen im Alltag wahrzunehmen. Es macht einfach Sinn für mich.“

Bosco nickte, die rituelle Antwort befriedigte ihn. Sein Vater warf ihm einen taxierenden Blick zu und feilschte weiter mit Bosco. Es war ohnehin alles eine Sache von Whuffie – hatten Adrians Eltern genug Reputationskapital, konnte ihre Dankbarkeit gegenüber Bosco die Empörung der Lehrer aufwiegen, wenn sie einen Studienanfänger aufgehalst bekämen?


Das Treffen war kaum vorbei, als seine Mutter Adrian und seinen Vater in Konferenzschaltung anrief. Wie sich herausstellte, hatte Adrians Vater ihr das ganze Meeting per Video-Stream in Echtzeit übertragen, sie hatte alles gesehen. „Adrian“, sagte sie scharf, „Was ist los mit dir? Du bist während der ganzen Sache komplett neben dir gestanden.“

„Ich hab nur nachgedacht, Mam. Ich war abgelenkt. Ich glaube, es ist jedenfalls gut gegangen, oder, Paps?“

„Sicher, sicher“, subvokalisierte sein Vater und klopfte ihm auf die Schulter, „ich denke, du bist gut auf das nächste Semester vorbereitet.“

Adrians Mutter war nicht zu besänftigen. „Adrian, ich hab dieses Herumgeeiere satt. Ich weiß genau, woran du gedacht hast -“ Adrians Atem stockte. Wie konnte sie von der Raubkopie wissen? „Das ganze jugendliche Händeringen über deine Generation lenkt dich von deinen wirklichen Prioritäten ab, und es ist an der Zeit, dass du dich zusammenreißt. Gewähre mir privaten Zugang, ich möchte einen Blick darauf werfen, was du in der letzten Zeit so ausgeheckt hast.“

Oh, Scheiße. Rasch löschte er die Bootlegs. Seine Mutter hatte seit Jahren nicht in seinen Dateien herumgeschnüffelt, also brauchte er eine Weile, bis er sich an das Gedankenkommando erinnerte, das die Raubkopien und alle Spuren ihrer Existenz aus seinem persönlichen Speicher löschte. Die ungeduldigen Geräusche seiner Mutter in Adrians Innenohr halfen nicht gerade dabei.

Als die Daten gelöscht waren, gewährte er ihr Zugriff. Betrübt sah er zu, wie sein System Log vorbeiscrollte und jede einzelne Datei in seinem Speicher durch den Schlüsselbegriff-Filter seiner Mutter geleitet wurde.

„,Die Eltern der Million hegen einen verständlichen Groll gegen ihre Nachkommenschaft’“, las sie mit gefährlicher Stimme vor. Es war die Arbeit, an der er und Mohan gemeinsam geschrieben hatten, und er wusste, dass sie ihr nicht gefallen würde. „,Aus welchem Grund auch immer entschlossen sie sich, eine neue Generation in die Welt zu setzen – zu einer Zeit, da die Welt alles andere wollte als dies. Die Opfer, die sie seither bringen müssen, sind immens, Whuffie-Abzüge, die sich täglich mehren, immer wenn ihre Altersgenossen ihre Missbilligung spürbar machen. Unsere Eltern stecken fest in der größten Annäherung an Armut, die die Bitchun-Gesellschaft kennt. Und es ist unsere Schuld.’“

Sie hielt inne und holte tief Luft. „In Ordnung, Mam, in Ordnung, das ist genug“, sagte Adrian. „Ich werde mich davon trennen.“

Sie schnaubte. „Da hast du verdammt recht. Das wirst du. Adoleszenter Schwachsinn –“

„Ich weiß“, sagte Adrian. „Es tut mir leid.“ Mohan hatte ohnehin noch eine Kopie – er konnte sie später wiederherstellen.

„Und dreh mir nicht den Zugriff ab“, sagte sie zu Adrians Enttäuschung. „Ich werde von jetzt an regelmäßig reinschauen – du hast dich auf deine Studien zu konzentrieren, nicht auf diesen, diesen –“

Ihr fehlten die Worte.


Adrian hoffte, seine Mutter würde sich später durch Boscos Anruf beruhigen, wenn dieser mitteilte, dass er für das Sommersemester an der Abteilung für Angewandte Mathematik an der Universität Toronto zugelassen war. Sie aber wurde den Verdacht nicht los, dass er etwas Ungutes im Schilde führte.

Mohans Theorie war, dass sie sich mit dem Stigma fast schon abgefunden hatte, einen der Million zu bemuttern. Nun hatte sie Angst, er würde etwas tun, was neue Schande auf sie herabregnen ließ.

Also gingen die routinemäßigen Kontrollen seiner Dateien weiter, jeden Tag zu einer anderen Zeit. Adrian blitzbackte kaum in der nächsten Woche, er fiel in einen rußigen, hyperrealen Zustand, des Zugangs zu anderen Bewusstseinsinhalten beraubt. Es war nicht, dass die Bitchun-Gesellschaft Grund hatte, sich zu beschweren: Essen, Wohnraum, Unterhaltung, Reisen, Kommunikation – alles kostenlos verfügbar. Keine Krankheit, die nicht mittels Verjüngung zu kurieren war, oder, wenn dies fehlschlug, mittels Auffrischung von einem Backup in einen neuen Klon. Aber es blieben noch drei Monate, bis sein Studium begann. Drei Monate, in denen er keine Polemiken mit Mohan austauschen konnte, in denen er die wundervollen Bewusstseinsinhalte, die er durch Mohan erlangt hatte, nicht aufrollen, sich ins Gehirn rammen konnte.

Nach einer Woche war er eindeutig meschugge, bereit, sich bis zum Studienbeginn einfrieren zu lassen. In den raren Stunden, in denen er und Mohan gleichzeitig wach und online waren, konnte er remote auf Mohans System arbeiten. Allerdings machte es die Verzögerung der zusammengeschusterten Verbindung so schmerzhaft, dass er es kaum aushielt.

Die Rettung kam zehn Tage nach seiner Aufnahme.

Er war unterwegs zu seinem privaten Platz, als es passierte. Er taute am Bordstein außerhalb der Union Station auf und kaute gedankenversunken sein Routing-Etikett, als er von einer Fremden angesprochen wurde. Die Frau war scheinbare 17 und eine schnelle Überprüfung ihrer öffentlichen ID bestätigte, dass sie tatsächlich 17 war, ein weiteres Mitglied der Million, eine Nadel im demographischen Heuhaufen. Sie schlich sich an ihn heran, als er reumütig durch die öffentlichen Verzeichnisse blätterte, in denen er seine Raubkopien abgelegt hatte, als seine Mutter sich das letzte Mal auf Zehenspitzen durch sein Bewusstsein geschlichen hatte, aus den Fetzen seiner Sammlung bergend, was möglich war. Sie trug eine Kutte wie die seine und hatte merkwürdige, entfernt asiatisch anmutende Gesichtszüge, mit rundem Gesicht und flacher Nase, ihre Haut jedoch hatte einen hellen, beinahe papierweißen Teint. Sie tippte ihm auf die Schulter und sprach laut, eine klare, junge Stimme, die sich von dem murmelnden weißen Rauschen der subvokalisierenden Menge abhob.

„He, du!“, sagte sie. Einige Leute drehten sich um und gafften, ihre Augen schnellten zu ihren HUDs hoch, wo sie Whuffie und Kennzeichnung des Paares überprüften.

„Hallo“, sagte Adrian.

„Ich heiße Tina“, sagte sie. Sie sprach in den lang gedehnten Vokalen des Alls, die Sprache eines Ausflüglers im dunklen Nichts des interstellaren Raumes, der durch die Abenteuerfilme im Netz düst.

„Adrian“, sagte er und streckte seine Hand aus.

Sie kicherte. „Wow, ihr macht das wirklich, hm?“

„Was?“

„Hände schütteln! Ich habe es in Historicals gesehen, aber nie im richtigen Leben.“ Sie schüttelte seine Hand, fester als es notwendig war. „Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Adrian. Was machst du?“

„Was?“, fragte er nochmals.

„Du weißt schon, was ist deine Rolle? Ich habe bei den Hydrokulturen ausgeholfen, bevor wir herkamen. Jetzt sagen meine Leute, ich muss etwas Neues finden. Was machst du?“

„Uh“, sagte Adrian. Sie war eine Ausflüglerin, frisch zurück vom Weltraum, wahrscheinlich war sie auf der Aristide Interplanetary nördlich der Stadt gelandet. Er wusste nicht viel von Ausflüglern, aber er wusste, dass ihre Version der Bitchun-Gesellschaft etwas abseits des Standards lag. „Ich bin Student“, sagte er.

„Wow!“, sagte sie. „Vollzeit? Was studierst du?“

„Angewandte Mathematik an der Uni Toronto. Bald zumindest“, korrigierte er sich, „diesen Sommer.“

Ihr Gesicht verdunkelte sich, während sie dies verdaute. „Wie lange wird das dauern?“

„Es ist ein vierjähriges Studium.“

„Vier Jahre?“, sagte sie, geschockt.

„Ja.“

„Das ist eine lange Zeit! Wer macht deinen Job, wenn du aufhörst?“

„Welchen Job?“, fragte Adrian. Er war sich nicht sicher, wie er in diese Konversation gezogen worden war, aber er erfreute sich in einer desorientierenden Weise daran.

„Den Job, den du jetzt machst“, sagte sie, als ob sie einem Idioten etwas erklären würde.

Er fischte nach Worten, beobachtete, wie es ihr dämmerte. „Du machst gar nichts zur Zeit, oder?“

Er grinste. „Nicht wirklich, nein.“

Sie klatschte in die Hände. „Ihr Leute seid echt abgefahren, weißt du das? Was machst du den ganzen Tag, wenn du nicht arbeitest?“

Adrian öffnete den Mund, sie sah ihn mit einer solchen Treuherzigkeit an, dass er eine unbesonnene und wundervolle Entscheidung traf.

„Ich werde es dir zeigen“, sagte er und schlug die Richtung zu den Fährendocks ein.


Es war schwierig, zwei Leute in die Boje zu quetschen, doch mit einigem Erröten und unabsichtlichen Hand- und Ellbogenberührungen schafften sie es, hineinzuklettern. Adrians bisherige sexuelle Erfahrungen waren rein teledildonisch und die Wirklichkeit dieser engen Nähe zu jemandem des anderen Geschlechts ließ seine Ohren pink erglühen.

Tina ging locker damit um, sie machte eine Bemerkung, dass sie schon in wesentlich engeren Unterkünften gewesen war, an Bord des Schiffes, auf dem sie aufgewachsen war, Zeit und Raum auf einer langen Reise zu etwas verbiegend, das sich als Brocken toten luftlosen Felsens entpuppte. „Aber schon cool, für die Erde“, gestand sie ein.

Adrian verdeckte seine Verlegenheit, indem er das Netzwerk wie rasend nach brauchbaren Bootlegs durchkämmte. Obwohl nicht offiziell Teil der Million, war Tina eine Generationsgefährtin und berechtigt zu den gleichen Bedingungen, auf denen Mohan bestanden hatte, dass die Million sie einhielt, wenn sie Zugang zu seiner Beute wollte. Adrians Nachforschungen pickten eine wahre Rosine aus dem Kuchen: Das Backup des Revolutio­närs auf ein Fitzelchen seines früheren Glanzes zurechtgestutzt, aber noch immer eine gute Wahl für Tinas erste Erfahrung. Er lud es von einem Jungen in Vancouver herunter und stellte es in Tinas öffentliches Verzeichnis. Sie schielte nach oben und ihre Augen wanderten über ihr HUD.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Es ist das, was ich mache“, sagte Adrian und schickte ihr die Blitzback-Anwendung.

„Wir lassen es zusammen ablaufen.“

Gemeinsam riefen sie die Anwendung auf, starteten das Bootleg und backten es.

Adrian unterdrückte einen enttäuschten Seufzer. Die Datei war so verkürzt worden, dass er sie kaum wahrgenommen hatte. Ein entferntes Hurra des Triumphs und dann war es vorbei. Tina hingegen war vollkommen von den Socken, sie atmete schwer, ihr Kiefer hing lose herab. Langsam öffnete sie ihre Mandelaugen und rollte den Kopf matt von Seite zu Seite.

„Das war wirklich toll“, sagte sie, „Wirklich. Woher kennst du Nestor?“

„Wen?“

„Der Typ im Backup – Nestor. Er war mit uns auf dem Schiff.“

Adrians Herz hämmerte in seiner Brust. „Du kennst ihn?“

„Klar!“, sagte sie. „Natürlich! Ich bin in seiner Nähe aufgewachsen.“

Adrian schwindelte es. Sie kannte den Revolutionär! Er konnte ihn treffen, eine neue Kopie des Bootlegs bekommen –

„Warte, du kennst Nestor nicht?“, sagte sie.

Er schüttelte seinen Kopf, sein Verstand raste. Er würde ihn treffen, würde ihn mit Mohan zusammenbringen, ihm ihre Theorien über die Million erzählen –

„Wie bist du zu dem da gekommen, wenn du Nestor nicht kennst?“, fragte sie.

Seine Gedanken machten eine kreischende Bremsung. „Es ist ein Bootleg“, sagte er. „Eine Raubkopie.“

Sie warf ihm einen harten Blick zu und er erkannte, was an ihren Augen, an ihrer Haut komisch war. Sie war ihr ganzes Leben Zinn-armiert gewesen, mit eiserner Lunge und stahläugig, bis sie zur Erde kam. Sie hatte erst seit ein paar Tagen nackte Augen. Jetzt sahen sie stählern, entrückt und nachdenklich aus.

„Du sagst, du hast das ohne Nestors Einwilligung bekommen?“, fragte sie.

Also erklärte er ihr alles über die Bootlegs, über Mohans Entdeckung der Hintertür, die ihm erlaubte, seinen persönlichen Speicher mit der allgemeinen ID zu versehen, die für die Mülltonne des Systems verwendet wurde. Er erklärte, wie Mohan die Backups über den Handshake-Kanal verteilt hatte und er wärmte sich gerade für eine Diskussion über Generationenpolitik auf, als sie ihn unterbrach.

„Das ist schrecklich!“, sagte sie. „Die sind privat – wie kannst du sie so einfach herumreichen?“

Er hatte sich tatsächlich seit Jahren keinen Gedanken darüber gemacht. „Es ist kein Ausspionieren unserer Freunde“, sagte er hastig. „Diese Leute sind Fremde. Wir wissen nie, wer sie sind – aber es ist der einzige Weg etwas über –“

„Nestor ist kein Fremder“, sagte sie knapp. „Er hat den Maschinenraum auf meinem Schiff bedient. Ihm dürfte das hier auch kaum gefallen.“

„Warte!“, sagte Adrian beunruhigt. „Du wirst es ihm doch nicht erzählen? Wir könnten eine Menge Schwierigkeiten kriegen.“

„Du meinst, du könntest eine Menge Schwierigkeiten bekommen“, sagte sie.

„Fein“, erwiderte er erbost. „Mach weiter so. Das ist der Lohn, dass ich mich mit einer Fremden anfreunde.“

Das ließ sie innehalten. „Anfreundest?“, fragte sie.

„Sicher“, sagte er. „Du bist die einzige Person, die ich je hierher gebracht habe. Das ist Freundschaft, oder?“

„Aber du hast mich gerade erst getroffen“, sagte sie. „Wie kannst du mein Freund sein?“ Sie schien aufrichtig bekümmert. „Ach, ich mochte dich einfach, das ist alles“, sagte er. „Du hast mir gute Fragen gestellt. Ich dachte, ich könnte dir auch welche stellen. Ich hab dir diesen Platz gezeigt, habe dich eins meiner Bootlegs blitzbacken lassen -“

„Und das macht uns zu Freunden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Auf dem Schiff haben wir uns zu jedem so verhalten. Freunde waren wirklich etwas ...“ Sie suchte nach dem Wort. „Es war nicht so beliebig. Freunde waren eine große Sache.“

„Siehst du?“, sagte Adrian, froh, vom Thema Raubkopien abgekommen zu sein. „Das ist genau eins der Dinge, die uns zu guten Freunden machen – du kennst dich auf der Erde nicht aus und ich weiß nicht viel über den Weltraum, wir haben eine Menge, um uns darüber zu unterhalten. Wie war es auf dem Schiff, Freunde zu haben?“

Und so legten sie los, zuerst war Adrian nur erleichtert, aber sie hatte wunderbare Geschichten, Geschichten von Tapferkeit und Aufopferung, von Freunden, verstreut über die Sterne, die Meere und die Erde, als das Schiff zurückkehrte, und dem hohlen Verlangen nach ihnen, das sie nun erfüllte. Bevor er es merkte, brach die Nacht herein. Er entdeckte ein weiteres Bootleg, frisch von Mohan, und sie blitzbackten es und stimmten überein, dass es mit einer vollständigen Datei besser war als mit einem verstümmelten Schnipsel. Nichtsdestoweniger hatte ihr Freund Nestor ein wesentlich interessanteres Leben als der 80-jährige Maler, den sie gerade abgespielt hatten.

Als sie sich verabschiedeten, nahm Adrian ihre Hand und sagte ihr, was für eine wundervolle Zeit er mit ihr verbracht hatte. „Denkst du, du könntest mir einen Gefallen tun?“

„Sicher!“, sagte sie heiter.

„Könntest du ein paar Dateien für mich aufheben?“

Wenn sie auch nur für einen Augenblick gezögert hätte, würde er es zurückgenommen haben, hätte ihr gesagt, sie solle es vergessen. Er war kein Bastard – sie war wirklich cool, die erste Person in seinem Alter seit Jahren, mit der er zusammen gewesen war, einfach angenehm, mit ihr herumzuhängen. Sie zögerte nicht, nicht eine Sekunde.

„Sicher“, sagte sie und er verschob alle Bootlegs, die er an diesem Nachmittag gesammelt hatte, in ihren Speicher.


Adrian war nicht wirklich sicher, was physisch nahe Freunde zum Vergnügen taten, aber Tina hatte alle möglichen Ideen. Sie trafen sich am nächsten Morgen zum Frühstück bei einer öffentlichen Speisung, in der Nähe von Adrians Wohnung, und die Schlange schien nie kürzer gewesen zu sein, während sie in der Beinahe-Stille des gedrängten Korridors schwatzten.

Sie gingen spazieren, während sie Post-Mangel-Waffeln und Würstchen in ihre Münder schaufelten. Tina machte fortwährend Bemerkungen über die Massen, die sich schiere drängelnde Menschlichkeit des Ganzen. Die Parks waren zu dicht besetzt, als das man dort hätte Spaß haben können, aber weit draußen im East End, wo untalentierte Bildhauer auf den unbeliebten ehemaligen Schrottplätzen öffentliche Ateliers betrieben, fanden sie genügend Bewegungsfreiheit.

Der Streit war Adrians Schuld. „Ich will ihn treffen“, sagte Adrian, während sie einem Mann mit Hammer und Meißel dabei zusahen, wie er auf einem scheußlichen Marmorlöwen herumkletterte.

„Den?“, sagte Tina. „Warum? Der ist lausig.“

Adrian lächelte. „Pst. Nicht so laut – jedenfalls ist der nicht so mies, wie so manche Leute, die sich hier herumtreiben. Nein, nicht ihn – Nestor, den Schiffs-Ingenieur. Du weißt schon -“

Ihr Ausdruck verschloss sich schlagartig. „Nein. Gott! Nein! Adrian, warum -“ Sie würgte an dem, was immer sie als nächstes sagen wollte.

Bestürzt schwächte Adrian ab. „Warum nicht? Weißt du, ehrlich, ich bewundere ihn.“

„Aber du warst in seinem Kopf!“, sagte sie empört. „Wie könntest du ihm in die Augen blicken, nachdem –“, wieder fehlten ihr die Worte.

„Aber genau deshalb möchte ich ihn treffen! Was ich gesehen habe, was er weiß, alles macht soviel Sinn. Ich habe das Gefühl, er könnte mir wirklich sagen, was hinter allem steckt.“

Ihre Augen bekamen wieder dieses stählerne Aussehen, das Million-Lichtjahre-Starren. „Wenn du mit Nestor sprichst, werde ich nie wieder mit dir reden. Ich werde – ich werde dich melden! Ich werde dich und alle deine Kumpel anzeigen!“

„Herr, Tina, was ist mit dir? Du bist angeblich meine Freundin und jetzt willst du mich melden?“ Er war so zornig, dass er kaum sprechen konnte. Er wünschte, er unterhielte sich über das Netz mit ihr, damit er einfach aufhängen und weggehen könnte. Er tat das Nächstbeste, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.

„Hey!“, Tina schrie, ebenfalls wütend.

Er ging weiter.


Sie fand ihn an seinem privaten Platz, in einer einseitigen Auseinandersetzung mit seiner Mutter. „Mam, ich bin alt genug, mir einen eigenen Platz zu suchen und du kannst mich nicht davon abhalten“, schrie er in die Eingeweide der Boje. Im Innenohr hörte er das verärgerte Grunzen seiner Mutter und sein HUD war voll mit den vorbeiscrollenden Systemaufzeichnungen, während sie wütend seine Dateien löschte. Sie war an diesem Tag in einer besonders üblen Laune.

„Mam!“, schrie er wieder. „Sprich mit mir oder ich – ich sperre dich aus!“

Tina sah zu, halb in, halb außerhalb der Boje. Ihr Hinterteil war dem stechend kalten Regen ausgesetzt, ihr Gesicht rötete sich in der eingefangenen Körperwärme der Boje. Adrian bemerkte sie gar nicht gleich, so vertieft war er in sein Gespräch.

„Das war’s“, sagte er. „Jetzt bist du draußen.“

Er öffnete seine Augen und sank seufzend gegen das Schott der Boje. Er erblickte Tina und stieß ein überraschtes „Jah!“ aus.

Er erholte sich rasch, warf ihr einen gemeinen Blick zu und sagte „Verzieh dich! Herr, lass mich einfach in Ruhe!“

Sie hatte ihn angerufen, ihm eine Woche lang Nachrichten auf seiner Sprachbox hinterlassen, aber er hatte sie gesperrt und alle ihre Nachrichten kamen ungehört zurück. Störrisch kletterte sie das restliche Stück hinein und kauerte sich so weit wie möglich von ihm entfernt hin, was noch immer hieß, dass sie halb auf seinem Schoß saß.

„Gott, das müssen Trottel sein im Weltraum“, ereiferte sich Adrian. „Kannst du nicht verstehen, dass ich nicht mit dir reden will? Geh weg!“

Tina blickte ihn abwägend an. „Eins lernen wir im Weltraum“, sagte sie, „und das ist, das Ende einer schlechten Stimmung auszusitzen. Ich werde nicht gehen, bevor wir die Gelegenheit hatten zu reden, und wenn du das nicht willst, dann ist das sehr schade. Du wirst mich nicht los, außer du schmeißt mich in den See.“

Adrian kochte und schloss seine Augen. Er suchte ergebnislos nach einem anständigen Bootleg, aber in den zwei Wochen, seit die Stichproben seiner Mutter seinen Austausch eingeschränkt hatten, waren seine Verbindungen ausgetrocknet und abgerissen. Es konnte Tage in Anspruch nehmen, sie wieder aufzubauen.

„Gut“, sagte er schließlich. „Sag, was du zu sagen hast und geh, in Ordnung?“

„Schalte den öffentlichen Zugang ein“, sagte Tina. Adrian fing an zu protestieren, aber sie fixierte ihn mit ihrem starren Blick. „Tu es“, sagte sie bestimmt.

Adrian seufzte dramatisch und schloss seine Augen, dann sah er zu, wie all die Bootlegs, die er bei ihr abgelegt hatte, in seinen Speicher zurückgespielt wurden. Alles! „Danke“, sagte er vorsichtig. „Was geht hier vor? Deponierst du Beweise, bevor du mich meldest?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich schätze, das verdiene ich. Da ist noch eines“, sagte sie. Und ein Dateiname erschien auf seinem HUD.

„Was ist das?“, sagte er.

„Versuch es einfach“, sagte sie.

Er ließ es laufen und backte es, dann grunzte er schockiert. Es war Nestors Backup, komplett und vollständig, Jahrhunderte des Lebens, das sich bis zum heutigen Tag erstreckte. Da war Tina in den Erinnerungen, ihre Geburt im Schiff, ihr Heranwachsen. Da waren die Reise, der lange vergebliche Trip und die lange Heimkehr. Die neuen Erinnerungen waren spiegelhell und kalt wie das All, all die Vitalität und Leidenschaft verflossen, mit nichts als einem quälenden Warten an ihrer Statt.

Er öffnete die Augen. „Wo -“, fing er an, konnte den Satz jedoch nicht beenden. Er machte eine Geste in ihre Richtung.

Sie grinste ironisch. „Ich habe es vom Schiff“, sagte sie. „Ich habe noch immer Zugang zu den Service-Dateien. Es ist erst hinter Pluto, auf dem Weg durchs All auf einer neuen Mission. Das hat die Übertragung etwas kompliziert gemacht, aber ich hab’s fertiggebracht.“

„Danke“, sagte er.

Sie neigte ihren Kopf. „Danke nicht mir“, sagte sie.

Es sickerte jetzt ein, diese Härte, das Warten, die kommenden Jahrhunderte vor sich, dumpf und ununterscheidbar von den vergangenen, keine Hoffnung, dass das je endete. Das jämmerliche, unheilvolle Wissen, dass nur noch mehr davon kommen würde, mehr und mehr, für immer, und keine Pause der Monotonie. Es breitete sich über ihn wie ein bleiernes Gewicht, alles begrabend, sogar den Zorn auf seine Mutter. Endlose Tage des Überflusses ...

„Wie wurde er so, so -“

„Wir nannten ihn ‘ausgetrocknet’“, sagte Tina. „Die Eltern im Schiff wollten die Kinder nicht in seiner Nähe haben, also sind wir natürlich hinüber geschlichen, um ihn zu treffen, wann immer wir konnten. Er hatte keine Verjüngung seit, ah, Ewigkeiten, und schaut aus wie ein silbernes Skelett. Wir löcherten ihn mit Fragen und er starrte und starrte nur vor sich hin, dann sagte er schließlich irgendetwas so erstaunlich Deprimierendes.“

„Aber wie? Er war so, so – leidenschaftlich. Er hat in mir das Gefühl geweckt, als gäbe es eine Chance, als könnte ich etwas verändern“, sagte Adrian. Das erste Bootleg musste aus der Zeit stammen, bevor das Schiff gestartet war, ein relatives Jahrhundert früher. Es war in Mohans Honigtopf (Anm.: etwa „Datenfalle“) gelandet, als das Schiff zurückkehrte und Nestor ein frisches Backup machte.

Tina zuckte die Achseln. „Der Weltraum verändert die Menschen“, sagte sie einfach. „Die Zeit auch. Er ist jetzt fast 400, weißt du. Meine Eltern nannten ihn post-human. Du weißt, was nach den Menschen kommt. Das ist der Grund, warum wir nicht wieder ausschifften – sie wollen nicht, dass ihnen dasselbe passiert. Nestor war nicht der einzige.“

Adrian schauderte es. Ein Schiff voller Leute wie dieses, zusammengeschweißt für Jahre in Quartieren, die enger waren als alle, die er auf der Erde kannte ...

„Du siehst, warum ich nicht wollte, dass du ihn triffst“, sagte sie.

„Oh, ich kann auf mich selbst aufpassen“, sagte er. „Du hättest dir um mich keine Sorgen machen müssen.“

Sie warf ihm einen weiteren spöttischen Blick zu. Ihr Blick war jetzt natürlicher, weniger unirdisch. Auch ihre Haut hatte einen menschlicheren Teint angenommen. „Ich war nicht deinetwegen besorgt“, sagte sie. „Ich habe mir um Nestor Sorgen gemacht! Er ist die meiste Zeit okay, aber wenn du ihn dazu bringst, über die alten Zeiten zu reden, bricht er einfach zusammen. Du hast noch nie jemand so Tristen gesehen. Armer alter Nestor“, sagte sie gefühlvoll.

„Sag, ich habe da noch eines, wenn du interessiert bist“, sagte sie. „Brandneu“, fügte sie hinzu.

„Sicher“, sagte Adrian und öffnete sein Verzeichnis. Er nahm die Datei, die er dort vorfand, spielte sie ab und backte sie.

Es war Tina, das kurze Leben Tinas, die Platzangst und unvorstellbare Entfernungen des Weltalls, die engen und tiefen Freundschaften der kleinen Gemeinschaft an Bord des Schiffes, die Einsamkeit in den Massen der Erde. Wie sie ihm nachstellte, auf den Straßen dieser seltsamen und überwältigenden Stadt, ihre Erleichterung, als er ihr keine Abfuhr erteilte. Und er – er durch ihre Augen gesehen, smart und intelligent und furchteinflößend. Furchteinflößend? Ja, sein Zorn und seine Zurückweisung, seine unergründlichen Werte und Ideen. Es war kurz, ihr Backup, bloß 17 Jahre an Bewusstsein, und es nahm nur einen Augenblick in Anspruch, es zu backen.

Tina sah hinab auf ihre Füße.

„Hey“, sagte Adrian. „Tina?“

Tina sah auf. Sie zeigten Angst, diese großen und arglosen Augen.

„Ja?“, sagte sie.

„Dreh deinen Gastzugang auf, OK?“, sagte Adrian. Dann schob er ihr eine Kopie seines letzten Backups hinüber.


Er bummelte so lange er konnte durch die Innenstadt, bevor er eine U-Bahn heim nahm. Seine Mutter hatte ihn nicht angerufen, seit er sie aus seinem persönlichen Speicher ausgesperrt hatte und ihr eine Kopie seines Backups und der Blitzback-Anwendung gesandt hatte; der Gedanke, ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten, brachte seine Eingeweide dazu, sich zu verknoten.

Bleiern nahm er die Treppe hinunter zu der unterirdischen Ebene, wo seine Familie schlief, und tippte den Türcode ein. Sie glitt auf und gab den Blick auf seinen Vater frei, der allein war und an die Decke starrte.

„Paps?“, sagte Adrian. Sein Innenohr klingelte. Er antwortete.

„Hi Adrian“, sagte sein Vater, in seinem Ohr. Er klang müde.

„Wo ist Mam?“, fragte Adrian, mit dem sich verstärkenden Gefühl einer Vorahnung.

„Oh, sie ist ausgegangen“, sagte Adrians Vater vage.

„Ist sie wütend?“

Adrian erwartete ein Kichern, aber es kam keines. „Nein“, sagte sein Vater knapp. „Nicht wütend.“

„Bist du wütend?“

Sein Vater verlagerte seine Masse, zog Adrian an sich und drückte ihn lange. „Nein, Sohn, ich bin auch nicht wütend“, wisperte er laut in Adrians Ohr.

Adrian brauchte einen Moment, bis er registrierte, dass sein Vater laut gesprochen hatte, und als er soweit war, minderte das nicht gerade seine Nervosität.

„Was ist los, Paps?“, fragte er schließlich.

Sein Vater setzte sich auf, er zog seinen Kopf wegen der niedrigen Decke ein. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, sagte er.

„Wofür?“

Sein Vater wechselte wieder zurück auf subvokal. „Die ganze Angelegenheit mit der Universität. Du hast es verdient, dir auszusuchen, was du tun willst. Wir hatten diesen Nachmittag ein langes Gespräch darüber und wir kamen zur Entscheidung, dass es nicht unsere Sache ist, dir zu sagen, was du studieren sollst. Ich werde dich morgen früh zu Bosco begleiten und wir können ihm den Essay zeigen, den du mit deinem Freund in Indien erarbeitet hast.“

Adrian wusste nicht, was er davon halten sollte, außer, dass er sich vage schuldig fühlte. „Warum? Was hat eure Meinung geändert?“

Sein Vater ließ sich auf den Rücken plumpsen und starrte an die Decke. „Ich hab die Arbeit gelesen“, sagte er. „Sie ist gut. Interessante These, gute Ausführung. Macht nachdenklich. Es ist eine gute Arbeit. Du könntest wirklich etwas damit anfangen.“

„Ja?“ Adrian errötete. Auf seinem HUD blinkte eine Meldung. Sein Vater schob eine Datei in seinen Speicher. Adrian untersuchte sie: ein Backup. Adrian verstand jetzt. Er wusste, wenn er in den Speicher seines Vaters sähe, würde er dort eine Kopie seines eigenen Backups vorfinden.

„Ja. Du und deine Freunde, ihr könntet eine wirkliche Bestimmung haben. Die Post-Humanen, die letzte Generation auf Erden – das ist gescheites Zeug.“

Adrian fuhr zusammen. Post-human. Er dachte an Nestor, saurierhaft, planlos, kalt und hart. An Tina auf der Suche nach einem Job, nach etwas, was Tag für Tag zu tun war.

Ein Gedanke kam ihm in den Sinn. „Was wirst du tun, wenn ich das Studium beginne, Paps?“

„Oh, ich weiß nicht. Vielleicht lege ich mich eine Weile auf Eis, schau mir an, wie die Dinge in einem anderen Jahrhundert aussehen. Ich weiß, dass es das ist, was deine Mutter tun will.“

Sie hatten zuvor schon über das Einfrieren gesprochen, aber Adrian hatte nie geglaubt, dass sie es tun würden. Weg für ein Jahrhundert – im Tiefschlaf gefroren, wie Millionen anderer, darauf wartend, was die Zukunft bringen würde.

„Ich werde dich vermissen“, sagte er.

„Oh, du wirst dich daran gewöhnen“, sagte Adrians Vater. „Ich kann gar nicht sagen, wie viele Leute, die ich kenne, zurzeit auf Eis liegen. Wirklich fast jeder, den ich kenne. Wir sehen uns wieder, so schnell kannst du gar nicht schauen.“

Als er am Morgen aufwachte, war seine Mutter zurück. Sie schlief zwischen ihm und seinem Vater. Automatisch checkte er seine In-Box. Seine Mutter hatte ihm ebenfalls eine Kopie ihres Backups geschickt. Er stand leise auf, vorsichtig, um sie nicht zu wecken und schlich davon.


Tina nahm beim zweiten Läuten ab, sie klang groggy.

„‘lo?“

„Tina?“

„Hi“, murmelte sie.

„Hör einmal, willst du einen Job?“, sagte er.

„Huch?“ Sie wachte jetzt auf.

„Einen Job – willst du noch immer einen Job?“

„Sicher“, sagte sie.

„Du bist angestellt“, sagte er.

„Als was?“

Adrian rief Nestors Backup auf und backte es. Er fühlte das hoffnungslose, hilflose Gewicht der Ewigkeit. Er blitzte das Backup seiner Mutter, das seines Vaters. Er grinste. „Da, ich gebe dir die Stellenanforderungen“, und lagerte die Dateien bei ihr ab.

„Fang mit denen an. Schick sie herum, an jeden, den du kennst. Verlange nichts dafür, aber wenn sie dir etwas zurückschicken, schick das auch herum.“ Er schluckte, bereitete ein Set vor, um es Mohan zu schicken. „Wir werden post-human, aber wir werden es richtig machen“, sagte er.